Den einen, exakt bestimmbaren Ausgangspunkt gibt es wohl für keine Abwärtsspirale. Doch der Roman braucht einen Beginn, von dem aus der langsame Niedergang eines Menschen nachgezeichnet werden kann. Dieter Wellershoff findet ihn in Die Schönheit des Schimpansen an der Universität: Klaus Jung – Student, Hoffnungsträger seiner Mutter auf gesellschaftliches Fortkommen – kämpft mit seiner Examensarbeit. Kein Satz fügt sich zum nächsten, kein Gedanke schafft es klar aufs Papier – ganz gleich, wie konturiert er im Kopf noch erschien. Die Tage zerfließen allein vor dem Schreibtisch und ausgesperrt von der Welt zeigt sich der Ausweg irgendwann ganz eindeutig und folgerichtig darin, einen vergessen geglaubten Text einfach abzuschreiben. Jung tritt neben sich und ‚seine‘ Arbeit, reicht sie ein als das, was sie ist – als etwas Fremdes; entsprechend schnell vergisst er sie, bis der Betrug schließlich auffliegt und die Vorladung ins Dekanat erfolgt.
Erstmals eindeutig wird in den Passagen des Romans, die dem Ende der Studentenlaufbahn Jungs gewidmet sind, dessen Fremdheit gegenüber einer Welt, der er eigentlich wohl gerne angehört hätte. Im Sekretariat des Dekans auf das längst gefällte Urteil wartend, wird Jung alles zum Indiz seines Ausschlusses. Zur ausliegenden Universitätszeitung mag er nicht greifen, weil er weniger Wartender als vielmehr bereits Verurteilter ist, den das Geschriebene ohnehin nichts mehr angeht; Plakate, die Studienreisen und Konzerte ankündigen, können ihn nicht meinen; selbst in Wortwahl und Tonfall der Sekretärin liest Jung nur eine Botschaft: „Dies ist die Gesellschaft, die weiterbestehen wird und zu der du schon nicht mehr gehörst“ (Wellershoff, Dieter, Die Schönheit des Schimpansen, Frankfurt a. M. 1979, S. 14). Und wie die Ausführung des Betrugs kommen auch dessen Konsequenzen, als befände Jung sich in einer Art Trancezustand, wie ein scheinbar unabwendbares Schicksal über ihn. Er wehrt sich nicht, er rechtfertigt oder erklärt sich nicht, sondern nimmt schweigend hin. Alles, was Jungs elende Existenz der folgenden Jahre begründen, was ihn schließlich zum Mörder machen wird, ist auf diesen ersten Seiten des Romans bereits enthalten. Abholen hätte man ihn in seinem Niedergang, wie erwähnt, wohl auch anderswo können.
Etwa in der Kolonne aus Zeitungswerbern, in der er sich nach seinem Rauswurf von der Uni verdingt; wo er auf Ellen, die Gelegenheitsprostituierte, trifft, mit der er flieht und die er schließlich heiratet. Noch weit toxischer als auf sein Studentenleben wirkt sich das Fremdsein gegenüber der Welt und sich selber auf diese Beziehung aus. Jung hat seinen Weltekel mittlerweile umarmt, anstatt ihn zu bekämpfen. Er sieht in seiner Isolation die eigene Besonderheit bestätigt. Entsprechend betreibt er sie offensiv: Als ihn etwa zwei ehemalige Kommilitonen bei einem seiner Gelegenheitsjobs sehen (er preist einen Fleckenentferner vor einem Kaufhaus an), können sie seinem Blick – dem des bemitleidenswürdigen, sich notdürftig über Wasser haltenden Betrügers – nicht standhalten. Jung nimmt dies als Erfolg – ebenso wie die Absage ans Spielen mit Bekannten, zu dem er – da bereits mit Ellen zusammen – animiert wird: „‘Nein, ich würde Ihnen nur lästig fallen‘, war Jungs Antwort, und im ersten Augenblick erschien ihm das wie ein höhnischer Triumph“ (S. 94). So spricht in vorgetäuschter Rücksichtnahme ein Außenseiter, der ursprünglich gar keiner sein wollte, der sich dann aber als solcher inszeniert, um dem eigenen Alleinsein den Anschein von Freiwilligkeit zu geben. So wird Trost gewonnen aus einem eigentlich gänzlich trostlosen Dasein, in das sich Jung derart immer tiefer hineinmanövriert. Ganz präzise präpariert Wellershoff hier einen Typus Mensch heraus, der sich selber immer weiter in sein eigenes Unglück hineingräbt.
Alles, was seine Umgebung, was vor allem auch Ellen von Jung möchte, wird für diesen zunehmend zu einer untragbaren Zumutung. Die Welt ist für ihn nie Spielwiese, zu keinem Zeitpunkt ein Ort zum Ausprobieren, sondern stets eine auf ihn eindringende Bedrohung: „Er konnte auf keinem Platz der Welt bleiben, ohne nach einer Weile zu fühlen, daß er erdrückt oder verschlungen wurde“ (S. 65, vgl. auch: S. 119, 176). Die Isolation ist also erhebend und beängstigend zugleich; sie streichelt den Hochmut des belesenen Sonderlings Jung, der für seine Umwelt ein Rätsel sein soll, wo er doch tatsächlich ein offenes Buch ist; auf der anderen Seite macht sie das Dasein ganz klein und lässt die Welt übergroß näher rücken. Von letzterem nimmt der Wunsch Jungs seinen Ausgang, gar nicht mehr sein zu wollen, sich auszulöschen, zu verschwinden.
Derartige Gedanken fasst, wenngleich aus anderen Gründen, auch Ellen, sodass zu den wenigen aufrichtigen Momenten der Beziehung ihr trauriges Bekenntnis gehört, sterben zu wollen. Wenn auch diesig gemacht durch zu viel Unausgesprochenes, dringt hier ein ehrlicher Gedanke an die Oberfläche. Es wird das Resultat dessen artikuliert, worum ansonsten totales Schweigen herrscht. Hierzu passend Jungs Überzeugung: „Niemals durfte man seine Wunden zeigen, wenn man nicht wollte, daß jemand hineingriff“ (S. 63). Letztlich sind die beiden einander Unbekannte. Sie wissen nichts voneinander, teilen nur Belangloses, mutmaßen und beäugen sich; sofern Liebe immer auch Selbstaufgabe ist, müssen sie scheitern, weil sie nichts aufzugeben haben. Aufgrund ihrer Flucht vor der Welt und voreinander wissen sie weder, wer sie selber noch wer der andere ist. „Wer war sie? fragte er sich. Doch das war nur eine verschobene Frage, die ursprünglich, ebenfalls unbeantwortbar, gelautet hatte: Wer bin ich? Es war, als wanderte die Frage ein paar Mal zwischen ihnen hin und her, um dann unmerklich zu verschwinden“ (S. 70). Wie im anderen aufgehen, sich ergänzen lassen, wenn vollkommen unklar ist, was es zu ergänzen gilt? Jungs hilfloser Versuch während eines Wochenendes in der Bretagne auf den Grund ihrer Eheprobleme zu gelangen, die hartnäckig verschwiegene Vergangenheit aufzuarbeiten, endet um ein Haar darin, dass Ellen sich eine Klippe hinunterstürzt.
In Feindschaft zu Welt und Mitmenschen lässt sich dumpf dahinleben, bloß existieren. Abermillionen Menschen tun genau das; darunter leiden werden nur diejenigen, die um die Trostlosigkeit des eigenen Daseins wissen, die es reflektieren. Bei Ellen bleibt dies aus, sie tritt nicht neben sich. Im Gegenteil, sie hockt tagein, tagaus in einer zunehmend verdreckten und zugemüllten Wohnung; inmitten von zu erledigenden Aufgaben lackiert sie sich in aller Seelenruhe die Nägel. Ihr Kosmos ist wie der Jungs ganz klein, doch anders als dieser fühlt sie die Welt nicht auf sich eindringen. Derweil mag ihr Mann von der Arbeit bereits nicht mehr heimkommen, sieht er – der sehr wohl Reflektionen über sein Dahinvegetieren anstellt – im längst nicht mehr nur metaphorischen Drecksleben Ellens doch immer auch sein eigenes. Das mitanzusehen, macht die Wut auf die Welt und auf sich selber nur noch größer, den Todeswunsch noch drängender. Was ansonsten als Alternative bleibt, ist ewige Flucht.
Denn glücklich sind für Jung nur die vollends Blöden, die Nichtwissenden und Schwachsinnigen. So sitzt bei einem Restaurantbesuch am Nebentisch eine Familie mit einem behinderten Jungen. Das Kind kann sein Fleisch nicht zerschneiden, es kann die Gabel nicht führen, hält kein Maß beim Essen, schlingt, muss im Zaum gehalten werden. Im Unterschied zu Ellen ist Jung vom Lebensglück dieses Jungen überzeugt, eben weil er kaum Erwartungen an die Welt hat und von dieser auch keine an ihn herangetragen werden. Schrecklich, so Jung, sei es doch nur für die Eltern, die um die Grenzen wissen, in denen das Leben ihres Sohnes stattfindet und stattfinden wird. In anderer Situation illustriert eine Holzfigur die Zufriedenheit der Nichtwissenden. Sie zeigt einen Schimpansen, „der in seinen großen unbewußten Händen einen Totenkopf hielt, auf den er wie gebannt hinunterstarrte“ (S. 101 f). Es dämmert höchstens eine Ahnung im Affen, was er da mit sich herumträgt; doch er weiß es nicht – und gerade das führt zu seiner (titelgebenden) Schönheit, einer Schönheit, die Jung ewig verwehrt bleiben muss.
Was ihn durch die Jahre trägt, sind ganz vereinzelte Momente aufglimmender Hoffnung – Hoffnung auf eine Wende im eigenen Leben, die sein Dasein auf Widerruf beenden und „die verborgene Bedeutung seiner Person für alle sichtbar wiederherstell[en]“ (S. 36) würde. Mitten im Leben stehend wartet der Außenseiter und Gescheiterte immerfort auf dessen eigentlichen Beginn (vgl. auch S. 106). Einen solchen Anfang wird es für Jung nicht geben; stattdessen stößt ihm sein Leben fortgesetzt zu, er driftet dahin, was ihn schließlich zu Verhaltensmustern führt, die er an den ‚gewöhnlichen‘ Menschen am stärksten verachtet. Hatte er Ellen immerzu im Verdacht, sich auch in der Ehe weiterhin als Prostituierte zu verdingen, sich aushalten zu lassen von irgendwelchen älteren Herren, während er auf Geschäftsreise ist, findet er sich plötzlich selber in der Wohnung einer flüchtigen Bekanntschaft wieder. Nach zwei jämmerlichen Nächten entlädt sich Jungs Selbst- und Weltekel schließlich in einer grausamen Tat, die durch eine Nichtigkeit ausgelöst wird. Dabei meint sein Gewaltausbruch jene Frau nur metonymisch; sie muss als Stellvertreterin sterben für einen ganzen Kosmos, den Jung auslöschen möchte. Folglich verschafft die Tat auch keine Linderung, sodass sich Jung schließlich an die einfachere Lösung macht – daran, auszulöschen, was auf der anderen Seite der Gleichung steht. Ist eingangs behauptet worden, der Beginn einer Abwärtsspirale sei nur schwer zu bestimmen, so gilt dies für ihr Ende nicht: Jung fährt in einen Wald und setzt schließlich das, was ihm nun mehr denn je als wirklich aufrichtiger Wunsch erscheint, in die Tat um.