Irgendwann in den 30er Jahren, eine Autofahrt auf den Florida Keys, jener Inselkette, die sich in südwestlicher Richtung in den Golf von Mexiko reiht: Harry Morgan, Hauptfigur in Ernest Hemingways Haben und Nichthaben sitzt am Steuer, nur mehr einarmig, der rechte war nach Beschuss durch eine „Bande von kubanischen Regierungsschweinen“ (Ernest Hemingway, Haben und Nichthaben, Reinbek 1970, S. 93) nicht mehr zu retten. Morgan besitzt ein kleines Schiff, mit dem sich jedoch auf legalen Wegen nicht genug verdienen lässt, um zuhause alle Münder zu stopfen. Also verlegt er sich aufs Schmuggeln, von Menschen und Waren – das ist ihm (war dies je einleuchtender als heutzutage) irgendwann einerlei. Sein Beifahrer heißt Albert, ein Bekannter und zugleich die Verkörperung des amerikanischen Durchschnittsbewusstseins; ebenso unbemittelt wie Morgan soll er diesem auf einer neuerlichen Schmuggelfahrt zur Hand gehen; über die Fracht ließ Morgan den zu Nervosität neigenden Albert lieber im Ungewissen: Vier Kubaner wollen Devisen für die Revolution stehlen und dann möglichst schnell heim; eigentlich gräbt Albert Abzugskanäle – eine Beschaffungsmaßnahme des Staates.
In Morgan kocht es. Nur mehr die Wahl zu haben zwischen Wohlfahrt und Verbrechen, schürt seine Wut. Die ist, dem Hass ähnlich, bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Zorn wäre besser gewesen. Allein letzterer könne, so notiert es Ernst Bloch, ein heiliger sein und tauge als subjektiver Ausdruck für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, deren zielgerichtete Abschaffung er befördern könne; auch treibe nur der Zorn einem die Röte ins Gesicht – die politische Programmatik bekommt so die ihr gemäße Farbe; Hass hingegen macht bleich und blind. Morgan führt er zumindest noch an die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten: „Ich weiß nicht, wer die Gesetze gemacht hat, aber ich weiß, es gibt kein Gesetz, daß man hungern muß.“ (ebd., S. 64) Wie die Keys, auf denen er lebt, und das Meer, auf dem er unterwegs ist, sind die gesellschaftlichen Strukturen, die ihn so wütend machen, einfach da. Sie stehen für ihn nicht im Prozess, haben folglich auch keine Ursache oder ein Jenseits, in dem sie aufgehoben wären und auf das sich zustreben ließe. Widerspruch gibt es nur in den engen Grenzen dieser als natürlich angesehenen Ordnung; doch auch die Gegenrede mündet zumeist nur in Ohnmacht. Albert etwa hat einmal gegen den Hungerlohn protestiert, den der Staat für die Kanalarbeiten zahlt – vergebens, denn, was lässt sich da schon machen: „[Albert:] ‘Es gibt nirgends Arbeit, von der man leben kann.‘ [Morgan:] ‘Warum?‘ [Albert:] ‘Ich weiß nicht.‘ [Morgan:] ‘Ich auch nicht. (…) Aber meine Familie wird essen, so lange wie irgendwer ißt.‘“ (ebd., S. 64) Und in seiner Wut gelangt Morgan über die Hungerlöhne und die Vertreibung der Armen von den Keys zu den Plänen von Geldadel und Regierung, die Küsten der Inseln mit Hotels vollzustellen, wenn die working poor erst einmal fort sind. Da wird es Albert schließlich zu bunt, allzu viel Widerspruch brandet ihm da entgegen, der zudem viel zu sehr an Grundsätzlichem rührt: „Du red’st wie n‘ Radikaler.“ (ebd.) Den größten aller Vorwürfe, an den Wurzeln der Probleme ansetzen zu wollen, wehrt Morgan so reflexartig wie energisch ab. Ein Radikaler sei er nicht, nur eine Wut habe er, und das schon sehr lange.
Wer sich mit Kritik zu weit vorwagt, eben radikal zu werden droht, macht sich verdächtig. Denn die beste aller möglichen Welten meint man bereits eingerichtet zu haben. Jedes Abweichen von ihr führt in den Schrecken des Totalitarismus. Ein Radikaler zu sein, bedeutet, ideologisch verblendet, kein Amerikaner und auch kein Demokrat zu sein. Keine Handlung darf die Grenzen kapitalistischer Ratio durchstoßen. In ihr – i. e. im allgegenwärtigen Quantifizieren, in der Möglichkeit, jede menschliche Regung und Beziehung in Geldverhältnissen auszudrücken – entstellt sich, längst nicht mehr nur in Amerika, aufklärerische Vernunft dahingehend, dass sie den Menschen vertilgt. Harry Morgan ist nur Getriebener seiner Probleme; das Leben stößt ihm fortgesetzt zu; und ausgerechnet als Krimineller, der gegen allerhand Gesetze verstößt, agiert er am systemkonformsten. An den Menschen wie am Fusel, die er schmuggelt, interessiert ihn allein der Dollar, den es zu verdienen gibt. Hier bestätigt sich die abgeschmackte Erkenntnis, Krieg und Verbrechen seien nur die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln. Und auch Albert wird, wenn nicht von Morgan, so vom Staat oder von jenen vier Kubanern, die sie hinübersetzen sollen, oder auch zuhause, von der eigenen Frau, beständig nur herumgeschubst. Doch gerade ihm, der doch allen Grund zum Widerstand hätte, geht das Programm der liberalen westlichen Demokratie, die ihm allein die Freiheit lässt, vor die Hunde zu gehen, derart in Mark und Bein über, dass es ihm instinktiv entfährt: „Du red’st wie n‘ Radikaler.“
Der Soziologe Wolfram Burisch hat sich mit den theoretischen Stichwortgebern dieses Demokratieverständnisses auseinandergesetzt (u. a. Raymond Aron, Daniel Bell, Seymour Martin Lipset). Eine unhistorische Perspektive auf Gesellschaft ist ihnen allen gemein; sie brandmarkt als ideologisch, was die bestehenden Verhältnisse nicht bestätigt und betreibt damit, gemäß Burisch, „‘Entideologisierung‘ mittels vollendeter Ideologisierung“ (Wolfram Burisch, Ideologie und Sachzwang. Die Entideologisierungsthese in neueren Gesellschaftstheorien, 3. Aufl., Tübingen 1971, S. 108). Nüchtern-phantasielos sogenannte Realpolitik zu betreiben ist das Gebot, nicht nur der Stunde, sondern der Epoche. Die demokratische Debatte, der Interessenausgleich, macht Utopien jeder Art obsolet. Wer ihnen dennoch nachhängt, kann bedenkenlos zu den Spinner (vulgo: den Radikalen) sortiert werden (vom Siegeszug dieser Theoreme bis in die Gegenwart zeugt natürlich mustergültig die Kanzlerschaft Angela Merkels). Nicht einer störungsanfälligen Ordnung, sondern den Störern dieser Ordnung wird sich entgegengestellt. Das System legitimiert sich dadurch, dass es funktioniert. Weil ihm genau das, aufgrund innerer Widersprüche – deren Opfer auch Harry Morgan und der gute Albert sind –, nicht gelingen kann, bedarf es einer „Ventilierung verbliebener innerer Konflikte“ (ebd., S. 128). Morgan kann hierzu zuverlässig auf seinen Rassismus zurückgreifen, etwa wenn er über die faulen „Nigger“ sinniert, denen er gelegentlich Heuer gibt. Einmal, auf einem Spaziergang in Havanna, nahm sich ein Schwarzer doch tatsächlich heraus, seine Frau Marie anzusprechen. Morgan langte ihm eine und ließ ihn dann „ungefähr einen halben Block weit durch die Luft segeln“ (Hemingway, Haben und Nichthaben, S. 157). Die Angetraute nimmt es als Liebesbeweis und Vergnügen in einem; vor Lachen beginnt ihr der Bauch zu schmerzen. Wenn es nicht die Schwarzen sind, so müssen die Chinesen zum Ablassen von Wut herhalten – den stinkenden „Chinks“ wischt Morgan hinterher, nachdem er sie als Schmuggelware an Bord hatte. Das kalkulatorische Prinzip schlägt noch, diesmal zugunsten Morgans, darin durch, dass er lieber den Schleuser ermordet als die zwölf armen chinesischen Seelen, die er irgendwo in der Karibik aussetzen sollte („Riesengeschäft (…) Chinks verfrachten, niemals zurückkommen. Andere Chinks Briefe schreiben, sagen alles fabelhaft.“ – ebd., S. 26). Man sieht hier, wie bereits bei anderer Gelegenheit einmal beobachtet, zumindest keinen tiefsitzenden Rassismus am Werk, sondern einen, der ganz unmittelbar an der kapitalistischen Basis haftet.
Doch alle Ventile versagen letztlich vor der Drangsal der materiellen Not. Harry Morgan entschließt sich zu einer erneuten Überfahrt, seiner letzten; Albert soll als Steuermann mitkommen. Nachdem die Fracht, jene vier Kubaner, von denen eingangs die Rede war, zunächst im Namen der Revolution, gegen den Imperialismus usw., eine Bank in Key West überfällt, macht sie sich auf zum Pier. Am Schiff angekommen, erschießen sie als erstes den guten Albert, über den noch der eigene Tod als Überraschung hereinbricht („‘Mal ‘n Moment‘, sagte Albert. ‘Nicht starten. Das sind ja die Bankräuber!‘“ – ebd., S. 95). Morgan wird vorläufig noch als Kapitän gebraucht; er hat ein eigenes Gewehr dabei, versteckt im Schiffsinnern. Während der Überfahrt entwickelt sich ein Gespräch mit dem Gutmütigsten unter den Vieren, der bekundet, das mit Albert täte ihm Leid, doch Roberto habe seit der Zeit unter Diktator Gerardo Machado leider sehr leicht den Finger am Abzug; ja, er habe den Eindruck, es mache seinem Genossen mittlerweile direkt Spaß zu töten; überhaupt seien die Verhältnisse in Kuba fürchterlich, das Militär regiere mit harter Hand, nun wolle man einen neuen Anfang wagen, dafür werde Geld benötigt; eigentlich seien ihm die Mittel auch nicht recht, aber der Zweck heilige sie nun einmal. Und wie der junge Bursche so redet, da dämmert es Morgan allmählich (so wie es einst Albert während der Autofahrt dämmerte): „Er ist ein Radikaler, dachte Harry. Das ist er, ein Radikaler.“ (ebd., S. 103)
Wenn auch nicht ganz so sehr wie vor ihm Albert, liegt natürlich auch Morgan mit dieser Diagnose falsch. Wenn überhaupt, hat er vier irrlichternde Radikale vor sich. Die Ironie, dass die vermeintliche Revolution, augenscheinlich ohne jede Massenbasis, zunächst beim Klassenfeind stehlen gehen muss, um richtig Fahrt aufnehmen zu können, kann ihm nicht aufgehen. Keine Episode eines gesellschaftlichen Umsturzes ist hier zu besichtigen, sondern lediglich vier Männer, die sich bereichern und im Anschluss die Beruhigungspille einwerfen, ihr Handeln stehe im Dienst höherer Ideale. Was sie ihren Feinden vorwerfen, trifft auf sie selber zu; die Brutalität ihres Vorgehens macht sie zu Wachs in den Händen der Gegenpropaganda. Ohne ihre Gewehre sind sie nicht weniger ohnmächtig als Morgan und Albert. Irgendetwas ändern, mithin also tatsächlich radikal sein, werden sie nicht. Sie sind schlichtweg Ausdruck dafür, dass die systematisch unterdrückten Wunschträume ins Bessere die Gesellschaft irgendwann zwangsläufig als Albdrücke einholen. Dasselbe gilt für Harry Morgan, den Schmuggler und Mörder. Auch in seiner Wut auf den Status quo ist der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft verborgen. Je energischer ihm auch nur der Gedanke an, geschweige denn eine Debatte über sie verweigert wird, ja er sich in Selbstzensur jeden Ausgriff über das Bestehende hinaus selber verweigern muss, desto wahrscheinlicher kommt es zum Umschlag in Gewalt. Weil diese blind bleibt, kann kapitalistische Ratio allerdings gut mit ihr leben.
Der Roman ergibt sich letztlich in Ausweglosigkeit. „Ich habe keine Wahl“ (ebd., S. 93), so dachte Morgan vor seiner letzten Ausfahrt. Auch die Nebenstränge der Erzählung sind hiervon kontaminiert: So schrieb sich Hemingway mit der Figur des Richard Gordon ein Stück weit selber in den Roman ein. Zu viel häusliches Drama lässt den Schriftsteller durch die Bars von Key West tingeln. Dort vermag er für die versprengte Sozialkritik in seinen Texten nur von einem geistig Umnachteten Lob einzuheimsen. Ein Kommunist hingegen versichert ihm in aufrichtiger Abneigung, er fände seine Romane beschissen. Was ist, zumal schreibend, schon auszurichten? In einer anderen Passage schwenkt die Erzählung im nächtlichen Hafen von Schiff zu Schiff und berichtet von ihren Besitzern. Ruhig liegen nur die Begüterten. Wenn die Not zu groß ist, bleibt allein noch die Freiheit in der Wahl des Mittels, dem eigenen Dasein ein Ende zu setzen. Hemingways Lakonik lässt den Selbstmord als letzten Geschäftsakt im Pleiteverfahren erscheinen: „Manche zogen den langen Fall vom Wohnungs- oder Bürofenster vor; manche machten es in einer kleinen Garage ohne Lärm mit dem laufenden Motor; manche bedienten sich nach einheimischer Tradition der Colts oder der Smith & Wesson, jenen wohlkonstruierten Geräten, die Schlaflosigkeit und Reue enden, die Krebs heilen, Bankrott vermeiden und durch den Druck eines Fingers einen Ausweg aus allen unhaltbaren Lagen sprengen“ (ebd., S. 145).
Resignation überwiegt, sodass es nur konsequent ist, dass schlussendlich auch die vier Kubaner und Harry Morgan sterben müssen – ohne je radikal gewesen zu sein, zugrunde gegangen zuerst und vor allem an den Verhältnissen, die sie nicht verstanden und die sie mit Wut und Gewalt lediglich zu verstetigen halfen, und erst dann an den Gewehrkugeln, die ihre Körper durchsiebten.