Das Internet konfrontiert Künstler mit einer Erwartungshaltung ihres Publikums an die Produktivität, mit der die Kreativität nicht Schritt halten kann. Das Internet neigt zur Überdrehung und erstickt auf diese Weise das Neue, das wirklich Innovative. Ein Beispiel: Wer sich bei YouTube Videos des österreichischen Kabarettisten Josef Hader ansieht, der wird feststellen können, dass dieser in diversen Fernsehsendungen immer wieder dieselben Erzählungen aus seinen Bühnenprogrammen einstreut (ein Phänomen, das bei weitem nicht auf Hader beschränkt ist). In einer ersten Reaktion führt dies beim Zuschauen zu innerlichem Naserümpfen, weil die Zweit- und Drittverwertung, das mehrmalige ‚Verbraten‘ identischer Witze, reichlich unkreativ erscheint. Noch verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die meisten Witze sich im erstmaligen Erzählen verausgaben – sie sind für die Wiederholung nicht geschaffen.
Erst durch weiteres Nachdenken wird deutlich, wie überzogen diese Erwartungshaltung ist, wie schädlich auch das ständige Verlangen nach Neuem sein kann. Bei Hader ist zu spüren, dass in den Programmen Arbeit steckt; jede Geschichte, jedes einzelne Wort hat seinen Platz. Es könnte gesagt werden, dass Hader Humor-Arbeit leistet – so wie es allen Größen auf diesem Gebiet nachgesagt wird. Der Witz aus der Konserve, die platte Pointe, die schlichte Umwandlung des Bekannten sind hier selten anzutreffen. Für solche Humor-Arbeit ist vor allem Zeit notwendig; Haders Programm scheint aus selbiger gefallen zu sein, denn das Internet kennt die Zeit nur als Größe, die es zu zerstückeln gilt in immer kleinere Abstände zwischen dem Erlebnis und dem Teilen des Erlebnisses mit dem Rest der Welt.
Durch die ihm inhärente Arbeit ist Haders Programm zwangsläufig auf eine Zeit festgelegt, in der der Kabarettist wochenlang von Stadt zu Stadt zog und an jedem Ort den Menschen etwas Neues (den Witz zum ersten Mal) erzählte. Heute ist der Mitschnitt vom ersten Auftritt einer Tournee bereits online, da ist Hader in der Maske noch nicht abgeschminkt. Jemand wie Hader weiß dies natürlich, er weiß es auch in dem Moment, da er in Fernsehsendungen auf die Witze aus seinen Programmen zurückgreift. Er nimmt es in Kauf, altbacken und unkreativ zu erscheinen; er nimmt es in Kauf, dass auf YouTube neben dem Video eines seiner Auftritte letztlich (etwas überspitzt ausgedrückt) nur identische Klone empfohlen werden; er macht das Problem des Mediums nicht zu seinem eigenen. Dennoch ist dies der Preis, den derjenige entrichten muss, der keine Massenware produzieren möchte.
Solche kann auf YouTube mittlerweile millionenfach konsumiert werden. Sie findet sich nicht in dunklen Nischen, sondern ist im Herzen der Plattform verankert. Die bekanntesten ‚YouTuber‘ reihen Video an Video, die in ihrer Inhaltsleere und Belanglosigkeit den Boulevard-Zeitungen und dem Privatfernsehen in nichts nachstehen. Auch die Mittel des Boulevards sind längst auf YouTube angekommen: Die Titel der Videos sind oftmals reißerisch, sie buhlen lärmend (in Großbuchstaben) um die Aufmerksamkeit des Publikums. Der Unterschied besteht freilich darin, dass die Protagonisten nicht mehr von einem Reporter oder einem Kameramann begleitet (im Normalfall: bloßgestellt) werden müssen, sondern das Material eigenhändig erstellen. Über die Resultate dieses Schaffens zieht Ann-Kathrin Nezik in einem Artikel für den SPIEGEL folgendes, treffendes Fazit: „YouTube-Deutschland im Jahr 2015: Das sind Dramen und Skandälchen, das sind Klatschstorys und Plumpheiten. Das sind 20-Jährige, die einander so lange saure Kaugummis in den Mund stopfen, bis einer spuckt; das sind episch lange Rezensionen von Drogerieeinkäufen.” (Nezik, Ann-Kathrin, Kopie einer Kopie einer Kopie, in: Der SPIEGEL 37 (2015), S. 74.)
In ihrem Artikel nennt Nezik mehrere Gründe für diese inhaltliche Armut, unter anderem erwähnt sie auch die Zeit als eine der Ursachen. Geld mit Werbeeinnahmen erzielt bei YouTube nur derjenige, der möglichst regelmäßig, möglichst viele Videos veröffentlicht. Die Schwemme an Material wird über andere Kanäle noch verstärkt: Auf Facebook werden die Videos angepriesen, auf Instagram werden zusätzlich Fotos hochgeladen und auf Twitter wird im Stundentakt das eigene Befinden mitgeteilt. Zeit zur Reflexion bleibt bei einer solchen Frequenz weder dem Produzenten noch dem Betrachtenden. Ermöglicht wurde der Dauerhagel der Beiträge erst durch die technischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren: Ein flächendeckendes, leistungsstarkes Internet und die zunehmende Verbreitung von mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets ermöglichen eine ständige Kontaktaufnahme mit den Zuschauern. Hierdurch ist eine Unmittelbarkeit gegeben, die die Inhalte fast zwangsläufig auf die Dokumentation von Banalem, Alltäglichem und Stupidem zulaufen lässt. Wer mit dieser Möglichkeit im Hintergrund operiert, wer zugleich weiß, dass nur derjenige, der von ihr auch Gebrauch macht, am Ende belohnt wird und erfolgreich sein wird, der wird keinem Gedanken mehr die Zeit zum Reifen geben.
Das Fernsehen hat diesen Weg aufgezeigt, hat auch die ersten Schritte auf ihm gemacht, konnte ihn jedoch – aufgrund technischer Limitierungen und einiger falscher Annahmen – nicht zu Ende gehen. Letztlich können beispielsweise die im vergangenen Jahrzehnt aufgekommenen Scripted-Reality-Formate als Vorläufer der auf YouTube so beliebten Videotagebücher (Vlogs) angesehen werden. In beiden Fällen regiert große Simplizität – sowohl was die Produktion als auch was den Inhalt betrifft. Bei RTL, ProSieben und Sat1 war man allerdings noch davon ausgegangen, dass der Realität auf die Sprünge geholfen werden müsste, dass die Laiendarsteller in absurden Geschichten bloßgestellt werden müssten. Heute weiß man, dass ein weitaus einfacherer Weg existiert, ein Weg, der vom Zuschauer nicht verlangt dasselbe Maß an Menschenverachtung aufzubringen wie die verantwortlichen Redakteure in den Sendeanstalten: YouTube hat gezeigt, dass auch mit dem Abfilmen des Alltäglichen, mit Schminktipps und den ‚Lebensweisheiten‘ Pubertierender Geld verdient werden kann.
Es muss der Plattform – im Vergleich zum Fernsehen – zugutegehalten werden, dass sich die ‚Grausamkeiten‘ bei den populären YouTubern weitestgehend auf alberne Telefonscherze und das Verschaukeln von Passanten in Innenstädten beschränken. Die alltäglichen Abartigkeiten des Fernsehens haben sich hier noch nicht Bahn gebrochen. Dies ist umso erstaunlicher, als jahrelang besorgt gefragt wurde, ob der Schund auf der Mattscheibe die Jugend verderbe. Es hätte wohl besser nach den missratenen Erwachsenen in den Fernsehsendern sich erkundigt werden müssen. Anders als das Fernsehen setzt YouTube nicht so sehr auf das Gefühl der Überlegenheit im Angesicht des Scheiterns oder der Peinlichkeit eines anderen, als vielmehr auf Voyeurismus und Zerstreuung.
Insbesondere der (vermeintlich authentische) Blick in ein fremdes Leben, der in manchen Fällen fast total ist, kann als Ursache für die Popularität gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es wird die eigene Wohnung gezeigt, auch die Familie ist ein Teil der Videos, die Heimatstadt – als Kulisse – sowieso; beim Einkaufen, beim Treffen mit Freunden, beim Verreisen – mit Auto, Bus und Flugzeug – immer ist die Kamera mit dabei. Sicherlich, das Fernsehen hat Homestories und Big Brother im Angebot, exhibitionistische Freaks, die sich gerne vorführen lassen. Doch in diesen Fällen ist eine Vorauswahl getroffen worden; zudem werden die Kandidaten in einer künstlichen Umgebung zusammengepfercht, damit sie möglichst rasch beginnen einander anzupöbeln. Die Art von Stellvertreterleben, die YouTube ermöglicht, das gefühlte Verschmelzen mit dem Fremden, war (und ist) über solche Formate nicht realisierbar.
Die Videos entfalten deshalb eine solche Sogwirkung, weil die Protagonisten keinerlei besondere Fähigkeit haben, weil sie auch – anders als 95% der Kandidaten in den Casting-Sendungen im Fernsehen – nicht irrtümlich glauben oder so tun als hätten sie irgendeine besondere Fähigkeit. Der Star bei YouTube sticht nicht heraus, eckt deshalb auch nirgends an. „Viele YouTube-Stars haben aus Langeweile angefangen. Sie besitzen weder ein besonderes Talent, noch haben sie eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte, das sind die selbst, die Inhalte ihrer Kosmetiktäschchen, ihre Urlaube, ihr Alltag.“ (Nezik, Kopie einer Kopie einer Kopie, S. 74.) Die Banalität ist zum Leitstern geworden, an dem sich alle orientieren – YouTuber als auch Zuschauer. Die meisten Menschen – vor allem diejenigen, die ein weitestgehend sorgenfreies Leben haben – hören nichts so gerne wie das, was sie ohnehin schon wissen; sie sehen nichts so gerne wie das, was sie bereits kennen; diese Menschen möchten in ihrer Existenz bestätigt werden – das gibt ihnen ein warmes Gefühl ums Herz, eine Art Heimatgefühl. In diesem Erkennen der eigenen Person im Fremden beruht der Erfolg vieler YouTuber. Auf diese Weise konnte ein Haufen Heranwachsender eine Nische besetzen, die der Unterhaltungsindustrie verwehrt bleiben musste, weil das wertvolle Gut der Authentizität mit Beratern und Managern im Hintergrund nie hätte bewahrt werden können. Die Wirtschaft konnte sich erst auf die neuen Stars stürzen (und hat dies auch getan), als sich diese bereits etabliert hatten. Im Grunde jedoch war sie bereits mit im Boot, als sie von Youtube noch keinerlei Notiz nahm: Wenn die Ausbeute eines Einkaufstages als Triumphshow inszeniert wird, der schönste Mascara und der effektvollste Lidschatten gekürt werden, so war dies von Anbeginn kostenlose Werbung für die Unternehmen. Mittlerweile kuscheln die meisten YouTuber auf eine Weise mit dem Kommerz, die die größten Schrecken der Werbung noch übertrifft. Die Zuschauer scheint es (noch) nicht zu stören. Sie scheinen immer noch sich selber im YouTuber ihrer Wahl erkennen zu können.
Während frühere Generationen einiges an Fantasie aufbringen mussten, um sich in ihre Stars und Helden zu verwandeln, um etwa die öde Reihenhaussiedlung in den Nahen Osten und sich selber in Kara Ben Nemsi zu transformieren, um in sich (den echten) Ronaldo und im Bolzplatz des Dorfes das San Siro zu erkennen oder um mit reichlich Schminke und dem Kassettenrekorder zu irgendeinem Popstar zu mutieren – während also derartige Anforderungen an die Vorstellungskraft gestellt wurden, braucht der Heranwachsende von heute nur an sich selber herunter zu sehen und schon ist er bei seinem (YouTube)Star angekommen. Die Angehimmelten wissen wohl instinktiv um ihre größte Qualität, werden deshalb nicht müde in ihren Videos zu betonen, dass sie doch eigentlich ‚normale‘ Menschen seien. Es feiert hier – in leicht abgewandelter Form – ein Topos Renaissance, der im höfischen Roman des Mittelalters seine Hochzeit hatte – jener der affektierten Bescheidenheit. Denn natürlich gibt es mindestens einen gravierenden Unterschied zwischen Star und Zuschauer, der zu allen Zeiten existiert hat – und zwar der des Kontostandes. Wer Klickzahlen vorweisen kann, die regelmäßig in die Hunterttausenden gehen, kann ein sehr gutes Auskommen generieren. Den Akteuren, die sich um den neuen Starkult etabliert haben, muss es derweil die Freudentränen in die Augen treiben: ein bisschen Verwalten, ein paar Werbeverträge einfädeln und schon rollt der Rubel; Investitionen in Talente sind nicht notwendig, denn wer es nach oben schafft, hat ohnehin keines.
Unter diesen Voraussetzungn bleiben all jene jungen Menschen auf der Strecke, die tatsächlich eine besondere Fähigkeit haben und diese bei YouTube präsentieren. Und auch diejenigen, die Arbeit in ihre Inhalte investieren, die sich nicht mit Massenproduktion begnügen wollen, gehen in der Schwemme des Banalen unter. Sie tauchen nur am Rande auf – wie etwa der ‚Humor-Arbeiter‘ Josef Hader – und wirken dort noch deplatziert. Es ist eine paradoxe Situation: YouTube lässt Innovatives als Massenware erscheinen, indem die Plattform den Künstler bei der Zweitverwertung seiner Arbeit ertappt. Zugleich erscheint die eigentliche Massenware – all jene Inhalte, die jenseits von Selbstinszenierung, seichter Unterhaltung und Brachialhumor, keinerlei Anspruch haben – als innovativ, weil ihr alltäglich – auf manchen Kanälen gar im Stundentakt – ein neues Gewand übergestülpt wird. Wer sich dieser Flut von Videos, Statusmeldungen und Bildnachrichten aussetzt, der wird nicht mehr zur Ruhe kommen, der wird auch den Wert des Bedeutsamen nicht erkennen können. Das Video von der Stange hat dann den Anschein von Relevanz, schämt sich mitunter bereits nicht mehr, Kunst gerufen zu werden.