Das geschichtliche Fahrtenbuch der Deutschen weist Konformität gewiss nicht im Übermaß aus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte man sich lieber ab von den Entwicklungen der europäischen Nachbarn. Der deutsche Sonderweg führte zumeist in eine Sackgasse; das Leid, das er im eigenen Land und in der Welt hinterließ, ist beispiellos. Momentan ist man wieder auf einsamen Pfaden unterwegs, diesmal jedoch ausnahmsweise im Positiven. Anders als in der Vergangenheit schlägt den Nachbarn keine Verachtung entgegen, sondern es wird der Appell vorgebracht, einen gemeinsamen Weg bei der Bewältigung der Flüchtlingskatastrophe einzuschlagen. Dieses Vorhaben wird außen- und innenpolitisch torpediert – der Sonderweg ins Unglück, einst eine deutsche Spezialität, droht schleichend zum europäischen Konsens zu werden.
Die These vom deutschen Sonderweg stammt aus der Geschichtswissenschaft; sie dient als übergeordnetes Narrativ, um sich der verspäteten Nation, dem Ausbleiben einer bürgerlichen Revolution, der Hartnäckigkeit der Aristokratie und schließlich den Abartigkeiten der Nationalsozialisten zu nähern. Versehen mit dem Etikett ‚industrielle Massenmörder‘ galt es für die Deutschen nach ’45 ins historische Glied zu treten. Zumindest in der Außendarstellung hatte man den Absonderungsfantasien abgeschworen, was einherging mit der Herabstufung in die zweite Reihe der Weltpolitik – das Beste, was dem Land passieren konnte. Doch unter der Oberfläche gor, insbesondere im national-konservativen Lager, das schädliche Sonderbewusstsein von gestern. So diagnostizierte Jürgen Habermas zu Beginn der 1990er Jahre, dass es für manch einen Politiker einzig einen Anschluss aus Opportunismus, nicht jedoch eine intellektuelle Anbindung an den Westen gegeben habe; man stand fest auf einsamen Pfaden: „Der ganze intellektuelle Müll, den wir uns vom Hals geschaffen hatten, wird wieder aufbereitet, und das mit dem avantgardistischen Gestus, für das Neue Deutschland die neuen Antworten parat zu haben.“ (Habermas, Jürgen, Das deutsche Sonderbewusstsein regeneriert sich von Stunde zu Stunde (Interview mit der Frankfurter Rundschau, 12.06.1993), in: ders., Kleine politische Schriften, Bd. 8 (Die Normalität einer Berliner Republik), Frankfurt am Main 1995, S. 86.)
Dieser „Müll“, das sind Demokratiefeindlichkeit und Volkstümelei, der Hang zu simplen Antworten und die unzähligen Ressentiments über andere Länder, die in diesen Kreisen die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Die unterschiedlichen Abstufungen bei der Berufung auf Nation und Volk, im Hang zu Ausländerfeindlichkeit und Rassismus sowie hinsichtlich der historischen Bezugspunkte sollen an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Wichtig ist die Einsicht, dass der deutsche Sonderweg nie vollends zugewuchert ist, jenseits der öffentlichen Wahrnehmung immerzu frequentiert wurde und von Zeit zu Zeit auch aus dem Verborgenen hervorbrach. Letzteres geschieht gegenwärtig wieder – allmontaglich in Dresden, wobei die Parolen der Sektierer mittlerweile eine erschreckende Integrationskraft an den Tag legen: Aus der Mitte der Gesellschaft, in die es die Volksparteien den Wahlplakaten nach immer hinzog, wo sie in jüngster Zeit jedoch offensichtlich nicht mehr angekommen sind, stammt das Gegröle gegen Ausländer und den Staat, während ein sozialdemokratischer Politiker dieser Stimmung vor einigen Jahren den Boden bereitete und seitdem als Stichwortgeber dient.
Über die Christsozialen haben die einfachen Lösungen für ein unendlich vertracktes Problem den Weg von der AfD und Pegida längst auch in die Regierungskoalition geschafft – (noch) abzüglich der rechtspopulistischen Rhetorik. Erschreckend ist, dass dieser milde Nationalismus, der sich immerzu an der selbsterzeugten Hysterie in Teilen der Bevölkerung orientiert, nicht mehr wie früher auf den Sonderweg führt, sondern zur Hauptstraße geworden ist: Überall in Europa werden Grenzkontrollen verschärft, Zäune gebaut oder die Aufnahme von Flüchtlingen gleich ganz verweigert. Immer einsamer wird es um die Bundeskanzlerin, die eine europäische Lösung des Problems anstrebt. Es ist der Pragmatikerin Angela Merkel, der bis dato kein politisches Wendemanöver zu gewagt gewesen ist, hoch anzurechnen, dass sie sich nicht in den Chor der nationalen Egoisten einreiht.
Zugegeben, es riecht danach, als bastele Merkel momentan an so etwas wie einem Vermächtnis. Nach einer Dekade, die neben uninspiriertem Verwalten vor allem durch zahlreiche Umfaller, der Demokratie-Entwöhnung der Deutschen sowie einer verheerenden Europapolitik geprägt war, setzt sie ihrem Opportunismus nun selber ein Ende. Erstmals scheint so etwas wie eine Haltung bei der Kanzlerin durch – eine Haltung, die von Humanität zeugt, weil sie den aberwitzigen Lebensstandard der Deutschen nicht über das Leben von Afghanen, Syrern oder Irakern stellt. Dabei ist es zunächst auch zweitrangig, ob Merkel diesen Kurs tatsächlich aus ethischen Motiven oder doch aus Berechnung eingeschlagen hat. Denn sollte sie ihren ganz eigenen Sonderweg erfolgreich zu Ende gehen können (wonach es momentan nicht aussieht), so wird ihre Entscheidung in Zukunft einmal erinnert werden, als erste deutliche Mahnung an die Deutschen – wie auch an den Rest Europas -, dass es mit dem idyllisch-abgekapselten Insel-Dasein des Kontinents nicht weitergehen kann.
Diese Argumentation, die sich vor allem an Menschlichkeit und Gerechtigkeit orientiert, würde der gemeine bayerische Landrat – männlich, Ü50 und Basta-Politiker aus Gewohnheit – mutmaßlich als weltfremden und schwülstigen Wortschwall abtun: Deutschland habe doch wahrlich schon genug getan, viele Kommunen seien längst an der Belastungsgrenze angekommen, die Integration als eigentliche Mammutaufgabe stehe zudem noch bevor und sei mit einer weiteren Millionenzuwanderung nicht zu bewältigen. Das alles ist korrekt, doch gehen Seehofers Mannen (und Frauen) fehl in der Annahme, eine Obergrenze (wie in Österreich) oder eine Abriegelung des Landes (wie in Ungarn und Großbritannien) würde den Zustrom der Hilfesuchenden abschwächen. Die Ursache für diese Fehleinschätzung liegt in der Egozentrik derjenigen, die sie vortragen: Viele Deutsche schauen auf sich und ihr Land und erkennen (auch wenn nach innen vor allem Klagen und Mäkeleien zu vernehmen sind) nichts als Exzellenz. Sie setzen sich selber als Weltmaßstab und schlussfolgern, dass jeder Erdenbürger am liebsten so leben würde wie sie. Dass die Menschen nicht nach Deutschland kommen, weil es hier so schön ist, sondern weil es in Syrien, im Irak und in Afghanistan so schrecklich ist, tritt in dieser verqueren Logik in den Hintergrund. In der Bayerischen Staatskanzlei muss folglich die Einsicht erst noch ankommen, dass weder Grenzkontrollen noch irgendwelche Fantasiezahlen die Menschen aufhalten, wenn in der Heimat die Bomben, in der Türkei ein Leben auf der Straße, in Griechenland das überfüllte Massenlager und auf dem Balkan der Schlagstock von Polizisten auf sie wartet.
Dass sich zur Unsinnigkeit der CSU-Pläne auch noch ihre praktische Undurchsetzbarkeit gesellt, entlarvt den bayerischen Populismus vollends. Wie in Österreich verliert man auch in München kein Wort darüber, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden sollen, wenn die Obergrenze erst einmal erreicht ist. Es müssten die Grenzkontrollen verschärft werden mit Personal, das nicht vorhanden ist. In der Folge würden die Flüchtlinge auf die grüne Grenze ausweichen, was sich die Schleuser (die man zu bekämpfen vorgibt) extra entlohnen lassen würden. Wollte man diese Art des Grenzübertritts auch verhindern, müsste zwischen Deutschland und Österreich ein Grenzzaun errichtet werden – aus Metall, einige Meter hoch, gekrönt mit NATO-Draht. Die Flüchtlinge würden dann auf eine nördlichere Route über Tschechien oder Polen ausweichen, sodass besagter Zaun schließlich bis zur Ostsee verlängert werden müsste. Wer des Deutschen vorzügliche Qualitäten beim Bau von Großvorhaben kennt, der weiß, dass die neuen Grenzanlagen sicherlich bereits 2025 fertiggestellt wären und das zehnfache des ursprünglich anvisierten Preises kosten würden. Ganz nebenbei würde die deutsche Wirtschaft aufgrund der neuen Handelshemmnisse in die Knie gezwungen werden und die Europäische Union wäre natürlich auch längst einen qualvollen Tod gestorben: Macht Deutschland die Grenzen dicht, würden Österreich und die Balkanländer auf dem Fuß folgen, sodass Griechenland und Italien wie noch vor knapp einem Jahr wieder alleine dastünden.
Wenn man Horst Seehofer mit seinem maliziösen Dauergrinsen dieser Tage so reden hört, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es genau dieser Status quo ante ist, den er sich herbeiwünscht. Es soll wieder so sein wie vor einigen Jahren – eine Zeit, in der auch Merkels moralischer Kompass in die vollkommen falsche Richtung gezeigt hat: Die Flüchtlinge würden wieder in Massenlagern in Jordanien und in der Türkei still vor sich hinvegetieren, tausende würden – weitestgehend unbeachtet vom Nachrichtenstrom – im Mittelmeer ersaufen und in Deutschland würde man auf Recht und Gesetz pochen (Dublin III), die Südeuropäer im Stich lassen und eine europäische Lösung verweigern. Dass dieser Ansatz nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern höchstwahrscheinlich auch zum Scheitern der EU führen würde, scheint den Landesfürsten Seehofer nicht weiter zu tangieren.
Angela Merkel sollte sich von derlei innenpolitischen als auch von den außenpolitischen Störmanövern nicht beirren lassen. Dass der deutsche Sonderweg von einst mittlerweile zum gesamteuropäischen Boulevard ausgebaut wird, sollte sie auf ihrem Weg letztlich nur bestärken. Wie das klingt, wenn eine Partei, der eigentlich die europäische Idee in den Stammbaum eingeschrieben ist, dem Druck vom äußeren rechten Rand nachgibt, konnte man am vergangenen Montag bei Frank Plasberg hören. Dort erklärte Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender, wie der Zwang zur Konformität Moral und Menschlichkeit aussticht: „(…) die Politik, die Frau Merkel seit dem vergangenen Jahr formuliert, hat uns in Europa isoliert. Sie versucht ihre ethischen Abwägungen unseren Partnern in Europa zu oktroyieren – und das wird nicht funktionieren. Ich glaube, Deutschland braucht eine Wende: Sie hat den Eindruck einer grenzenlosen Aufnahmebereitschaft erweckt und hat europäische Regeln außer Kraft gesetzt. Jetzt steht sie vor den Scherben ihrer Politik.“ (Hart aber fair, 25.01.2016) Lindner spielt die Leier der Rechtspopulisten, wobei er als Zugabe noch eine europäische Solidarität herbeiflötet, die die Unmoral zum Leitstern erhebt. Bei den Ursachen für die Fluchtbewegungen fällt ihm nicht zuerst das Chaos im Nahen Osten, sondern Merkels „Wir schaffen das!“ ein. Seine eigenen Abwägungen münden im Übrigen in der Forderung, die Außengrenzen der EU besser zu sichern – eine Maßnahme, die bereits in den vergangenen Jahren, bei wesentlich niedrigeren Flüchtlingszahlen, nicht griff, die den gesamten Druck nach Südeuropa verlagern und zu tausenden Leichen im Mittelmeer führen würde.
Für eine nur mehr röchelnde FDP geht Lindner mit seinen Äußerungen auf Wählerfang in ganz trüben Gewässern. Wo jedoch die Rechtspopulisten mit ihrer Hysterie und dem Insistieren auf einfache Lösungen (die ihren Namen nicht verdienen) die demokratischen Parteien vor sich hertreiben, wo sie ihnen mitunter bereits die Politik diktieren, weil sie Teile der Bevölkerung mit ihrer Panikmache angesteckt haben, dort wird es kein humanes, kein wirtschaftlich gedeihendes und auch kein sicheres Europa geben. Sollte sich hingegen Merkel durchsetzen, indem sie die bockbeinigen EU-Mitglieder doch noch zur Besinnung bringt, würde lediglich eine Einsicht verfrüht auf die Europäer eindringen, der sie sich über kurz oder lang ohnehin stellen müssen: So wie in den vergangenen Dekaden kann und wird es nicht weitergehen.