Da hält sich der Pfarrer auf, mit all den Stationen und Eckpunkten eines Lebens, während der Trauerfeier – und trifft doch fast gar nichts. Es gilt wohl das Besondere eines Lebens herauszuschälen. Die Informationen, die ohnehin fast alle Anwesenden kennen, werden zuvor bei der Familie erfragt und schließlich mit der gebotenen Schwere in der Stimme abgespult. Trost gibt es in diesem Fall wohl nur durch die Erwartbarkeit: es wird das geliefert, was seit jeher an dieser Stelle geliefert wurde, was dereinst auch über einen selber ‚abgeliefert‘ werden wird. Vielleicht ist diese Oberflächlichkeit beabsichtigt, hören doch ohnehin viele nicht recht zu, vielleicht aber ist sie auch ein großer Irrtum.
Ein Irrtum, der davon ausgeht, dass der Tod die Hinterbliebenen das Besondere eines Menschen vermissen lässt. Doch die speziellen Taten, Fähigkeiten oder Lebensstationen stehen nur in der Erinnerung jener im Mittelpunkt, die den Verstorbenen nicht näher gekannt haben. Zu ihnen zählt gewöhnlich auch der Pfarrer, dessen getragene Intonation folglich so gar nicht zur Belanglosigkeit seiner Worte passen will.
Trauer – sofern sie nicht auf ein kurzes Leben, auf versäumte Zukunft gerichtet ist – kondensiert am Gewöhnlichen, an alltäglicher Routine, regelmäßigem Umgang miteinander, an all den kleinen Dingen, die einem während des Lebens vielleicht überhaupt nicht auffallen. Sie werden entdeckt in den Wochen und Monaten nach dem Begräbnis, könnten deshalb wohl auch nicht unmittelbar nach dem Tod mitgeteilt werden. All jene Details, die im Alltag die Zeit verschluckt hat, die in der Routine untergegangen sind, sinken nun umso schwerer ins Bewusstsein, weil sie plötzlich fehlen. Dies ist der Graben, der erinnernd überbrückt werden muss.
Das Besondere hat bereits während des Lebens einen Platz in der Erinnerung, weil es das Gewöhnliche des Alltags kurzfristig unterbricht. Der Tod hingegen zerbricht das Gewöhnliche, er setzt der Erinnerung einen Ankerpunkt, an dem nicht der Moment, sondern die Wucht von Jahren, vielleicht gar von Jahrzehnten, zerrt. Die Literatur kennt die Kraft dieses Gewöhnlichen, seine Fähigkeit tiefe Furchen zu hinterlassen. Deshalb nun also anhand von zwei Textausschnitten – aus Adalbert Stifters Novelle „Abdias“ und Bolesław Prus Roman „Die Puppe“ – das Sterben im Zitat (jede Paraphrase würde riskieren das Wesentliche zu verfehlen):
„Abdias saß nach diesem Ereignisse [dem Tod seiner Tochter Ditha] auf dem Bänkchen vor seinem Hause, und sagte nichts, sondern er schaute die Sonne an. Er saß viele Jahre, die Knechte besorgten auf Anordnung des Handelsfreundes, von dem wir öfter geredet haben, die Felder – aus Dithas Gliedern sproßten Blumen und Gras – eine Sonne nach der anderen verging, ein Sommer nach dem andern – und er wusste nicht, wie lange er gesessen war, denn nach glaublichen Aussagen war er wahnsinnig gewesen. Auf einmal erwachte er wieder, und wollte jetzt nach Afrika reisen, um Melek [brachte Abdias einst um seinen Reichtum] ein Messer in das Herz zu stoßen; aber er konnte nicht mehr, denn seine Diener mußten ihn am Morgen aus dem Hause bringen, und Mittags und Abends wieder hinein. Dreißig Jahre nach dem Tode Dithas lebte Abdias noch. Wie lange nachher, weiß man nicht. In hohem Alter hatte er die schwarze Farbe verloren, und war wieder gebleicht worden, wie er in seiner Jugend gewesen war. Viele Menschen haben ihn auf der Bank seines Hauses sitzen gesehen. Eines Tages saß er nicht mehr dort, die Sonne schien auf den leeren Platz, und auf seinen frischen Grabhügel, aus dem bereits Spitzen von Gräsern hervor sahen.“ (Adalbert Stifter, Abdias, in: Studien II, Augsburg 1956, S. 104.)
„Gegen acht Uhr nahm die Anzahl der Kunden ab. Dann kam stets ein fettes Dienstmädchen mit einem Korb, der Brötchen und Becher enthielt, aus den Tiefen des Ladens hervor, gefolgt von der Mutter unseres Herren, einer dünnen alten Dame in einem gelben Kleid, mit einem großen Hut auf ihrem Kopf und einer Kanne Kaffee in ihrer Hand. Den Behälter auf den Tisch stellend sagte die alte Dame: „Gut Morgen, meine Kinder! Der Kaffee ist schon fertig…“ Und sie goss den Kaffee in die weißen Becher. Der Alte Mincel ging zu ihr, küsste ihre Hand und sagte: „Gut Morgen, meine Mutter!“ Hierfür erhielt er einen Becher Kaffee und drei Brötchen. Dann ging Franz Mincel zur ihr, gefolgt von Jan Mincel, August Katz und mir. Jeder von uns küsste die trockene Hand der alten Dame, die von blauen Venen zerfurcht war, und sagte: „Gut Morgen, Grossmutter!“ Und jeder bekam seinen Becher und drei Brötchen. Nachdem wir hastig den Kaffee ausgetrunken hatten, trug das Dienstmädchen den leeren Korb und die Becher fort, die alte Dame ihre Kanne und beide verschwanden. (…) Die Mutter meines Herren lebte lange Zeit. Als ich 1853 aus dem Ausland wiederkam, fand ich sie noch bei bester Gesundheit. Jeden Morgen kam sie in den Laden und sagte: „Gut Morgen, meine Kinder! Der Kaffee ist schon fertig…“ Aber ihre Stimme wurde von Jahr zu Jahr schwächer, bis sie schließlich für immer erlosch.“ (übersetzt aus folgender englischen Ausgabe: Bolesław Prus, The Doll (Translation by David Welsh), New York 1996, S. 19;22.)
In beiden Textausschnitten wird ein stabiles Bild entworfen, in dem Bewegungen und Handlungen allein routinemäßig stattfinden: das Stabile sind Abdias‘ Haus und der Kaufmannsladen der Familie Mincel, die Routine besteht im Heraustragen des alten Mannes, dessen Verharren auf der Bank und schließlich das Hineintragen zurück in das Haus sowie im morgendlichen Ritual den Angestellten stets mit demselben ‚Zeremoniell‘ den Kaffee zu bringen. In beiden Bildern ist nichts Außergewöhnliches, sie erschöpfen sich in der Beschreibung des Gewöhnlichen.
Als schließlich der Tod eintritt, wird dem entworfenen Bild schlicht die Routine genommen, sodass allein noch das Stabile bleibt. Es gibt nur mehr die leere Bank vor dem Haus und der Kaffee mag vielleicht fortan irgendwo anders herkommen, den Ruf der Großmutter allerdings werden die Angestellten nie mehr vernehmen, die Geste des Dankes nie mehr benötigen.
Im Fall von Abdias stehen die Gewöhnlichkeit und Routine der letzten Jahre in starkem Kontrast zu seinem Lebensweg. Als einer Kreuzung aus Hiob- und Ahasverfigur bricht alles Unglück der Welt über ihm zusammen: sein Reichtum wird ihm genommen, sein Gesicht durch die Pocken fürchterlich entstellt, Ehefrau und Tochter sterben lange vor ihm, seine Heimat, die nordafrikanische Wüste, muss er verlassen, er strandet in einem mitteleuropäischen Tal. Einem turbulenten Leben, durchsetzt mit Unglück, ist – wenn auch im Wahnsinn – zumindest ein sanftes Ende vergönnt. Dieses wirkt eindrücklicher als ein Tod im Außergewöhnlichen, etwa auf einer letzten Reise oder gar im Kampf.
Es wird hier dem in der Vorrede zu Stifters Erzählband „Bunte Steine“ beschriebenem „sanfte[n] Gesetz“ das letzte Wort erteilt. Dieses meint „die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens.“ (Stifter, Adalbert, Vorrede zu „Bunte Steine“, in: Steffen, Konrad (Hrsg.), Adalbert Stifter. Gesammelte Werke, Bd. 4, Basel 1963, S. 13.) Abdias schlägt diese Wurzeln nur unfreiwillig, als es dafür bereits fast zu spät ist. Ein „Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit“ (ebd., S. 10) wurde ihm nicht zuteil, einzig ein annähernd „gelassene[s] Sterben“ (ebd.) kommt ihm noch zu.
Der Leser bleibt allein mit der Bank vor dem Haus zurück und wenngleich er nur wenige Sekunden der Erzählzeit gemeinsam mit Abdias auf dieser Bank verbracht hat (ungleich länger begleitete er die angerissenen Turbulenzen in dessen Leben), haben die Routine und Gewöhnlichkeit von dreißig Jahren erzählter Zeit eine enorme Kraft. Stifters „sanftes Gesetz“ verleiht dem Tod mehr Gewicht und erleichtert ihn zugleich. Ihm wird eine Gelassenheit beigegeben, die ihn verkleinert. Der Tod ist hier keine Anmaßung der Natur, gegen die der Mensch mit allen Mitteln angehen muss, sondern ein unausweichlicher, letztlich vollkommen gewöhnlicher Endpunkt. Er ist unerlässlich, um den Wert des Gewöhnlichen – gerade in einer Welt, die nach dem Besonderen lechzt – spüren zu können.
Spricht der Pfarrer doch einmal von diesem Wert, vermag er auf diese Weise vielleicht sogar Trost abseits von biografischem Einerlei und Jenseitsbeschwörungen zu spenden, so steht er wohl am Grab eines eigenen Verwandten oder Freundes. Adernorts wird er allzu oft nur als professioneller Wortautomat benötigt, der exakt das ausspuckt, was man ihm Tags zuvor im Gespräch eingegeben hat – selbstredend angereichert mit allerlei religiösen Worthülsen. Als ein solcher Automat ist der Pfarrer entbehrlich.