Es regiert die Dressur, nicht nur im Zirkus, sondern mehr denn je auch in der Arbeitswelt. Bunt geht es zu, hier wie dort. Doch im Unternehmen existiert die Bonbonwelt nicht, um der Phantasie Höhenflüge zu verschaffen. Sie soll die Arbeitnehmer einlullen, sie von ihrer Persönlichkeit, letztlich von ihrem gesamten Leben außerhalb der Arbeit entwöhnen, um die Dressur zu erleichtern. Google etwa hat in Mountain View (Kalifornien) eine Infrastruktur errichtet, die das Verlassen des Arbeitsplatzes überflüssig macht: kostenlose Essensangebote, Ruhezonen, Volleyballfelder und Tischtennisplatten, Nachbauten von Dinosauriern und Raumschiffen, alles farbenfroh – ein Milliardenunternehmen mit dem Ambiente eines Kinderzimmers.
Die Gestaltung ist auf Ungezwungenheit, Spiel und – vor allem anderen – auf Isolation ausgerichtet. Die Angestellten sollen sich nicht als die Lohnabhängigen verstehen, die sie sind, nicht als Antagonisten zu ihren Vorgesetzten – jene Rolle, die ihnen qua System zukommt. Stattdessen sollen sie sich als „Googler“ verstehen, aufgehen im Universum des Kinderzimmers: „Eigentlich ist das [der Googleplex] nur ihr Arbeitsplatz. Aber in Wahrheit ist es mehr. Es ist ihre Welt. Außer zum Schlafen ist es nicht nötig den Googleplex zu verlassen. Vielleicht ist es auch gar nicht erwünscht.“ (Hamann, Götz/Pham, Khuê/Wefing, Heinrich, Die Vereinigten Staaten von Google, in: Die ZEIT 33 (2014), S. 11)
Die konsequente Abschirmung nach außen garantiert am ehesten, dass die Angestellten die Welt im Sinne des Konzerns verändern, ungestört von allen gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Einflüssen. Die Grenze, die gezogen wird, ist die zwischen den Googlern und den ‚gewöhnlichen‘ Menschen. Das Leben außerhalb des überdimensionierten Spielplatzes soll den Angestellten fremd werden. Gewünscht ist der Arbeitnehmer als leeres Blatt, das neu beschrieben werden kann.
Dies nicht nur in Kalifornien, sondern längst auch in Europa. In Carmen Losmanns Dokumentarfilm „Work Hard-Play Hard“ erzählen Architekten und Unternehmensberater von den Zielen, die der Konzern Unilever mit der Errichtung einer neuen Firmenzentrale in der Hamburger Hafencity erreichen wollte. Es sollte ein Ort entstehen, an dem niemand erinnert wird, dass er sich bei der Arbeit befindet. Die Räume durften keinen Bürocharakter haben, stattdessen sollten sie an ein „Nest, Heimat und (…) Wärme“ (Losmann, Carmen, Work Hard-Play Hard, Deutschland 2011) erinnern. Es wird mit Lügen gelockt: Das Nest wird behauptet, wo Konkurrenz dominiert, eine Heimat in Aussicht gestellt, wo nur Fremde auf einen warten und Wärme versprochen, wo die kalten Zahlen über alles andere herrschen. Täuschen lassen sich dennoch viele, möchten sich vielleicht auch täuschen lassen – der Zirkus platzt aus allen Nähten.
Die Dressur des Mitarbeiters setzt ein mit einem unerträglichen Schwall von Anglizismen, der alles Unangenehme übertünchen soll. Sie findet ihre Fortsetzung in Firmen-Richtlinien und internen Kodizes, die sich nicht schämen die größten Banalitäten festzuschreiben: Die Mitarbeiter sollen einander respektvoll begegnen, versuchen, sich in die Position ihres Gegenübers hinein zu versetzen, und möglichst höflich miteinander umgehen. Menschen, die tatsächlich meinen, dass Derartiges eine Berechtigung habe, dürften in ihrem Leben nie Teil einer Schulklasse, eines Sportteams, eines Orchesters oder auch nur einer Kindergartengruppe gewesen sein. Selbstredend waren die meisten Mitarbeiter ein Teil solcher oder ähnlicher Gruppen. Doch all das, was sie dort gelernt haben, können sie beim Gang in das Büro, das keines mehr ist, hinter sich lassen. Ihr Unternehmen nimmt sie an die Hand und erklärt ihnen noch einmal behutsam die Grundlagen des menschlichen Miteinanders, dies nun unter dem Schirm des Kapitalismus, ohne lästigen ethischen Ballast. Die eigene Persönlichkeit soll der Arbeitnehmer an der Eingangspforte abgeben.
Wer Widerwillen zeigt, wird von den Milchgesichtern aus der angeheurten Unternehmensberatung in die Besserungsmühle des Teambuildings geschickt. In vollkommener Abgeschiedenheit von der eigenen Persönlichkeit muss schließlich wie in einer Sekte auf den Pfählen eines Hochseilgartens Bekenntnis abgelegt werden: „Ich werde demnächst noch mehr und besser und verstärkt kommunizieren, um Prozesse und Aufgaben schneller und zielführender erledigen zu können, was am Ende heißt: mehr Umsatz.“ Oder: „Es ist ein wahnsinnig tolles Gefühl, mich einfach in die Arme meiner Kollegen fallen zu lassen, das ist ein sehr, sehr schönes Gefühl.“ (Losmann, Work Hard-Play Hard) Die Heimat ist das Büro, die Familie sind die Kollegen. Das leere Blatt – es füllt sich.
Die Dressur ist auf den Auftritt ausgerichtet – und sei es nur die Vorstellung in der kleinen Manege, ohne großes Publikum. In vielen Unternehmen finden in regelmäßigen Abständen Bewertungen der Mitarbeiter, so genannte Assessment-Center, statt. Wie im autokratischen Staat ist der permanente Ausnahmezustand ausgerufen, an den die Botschaft gekoppelt ist: „Sei dir niemals sicher!“. So wird dann in Losmanns Dokumentation der junge, dynamische und fein hergemachte Mitarbeiter, der gerade etwas länger als ein Jahr im Unternehmen beschäftigt ist, zu seiner Bewertung vorgeladen. Ihm gegenüber sitzen zwei Vertreter aus dem Management und eine Unternehmensberaterin der Firma Kienbaum Consultants. Zwei Stunden stellen sie Fragen, die dem Verhörten wohl alle bekannt waren, hat er doch vermutlich eingehend die Literatur zum Thema Assessment-Center studiert. Daher meint er auch, die gewünschten Antworten zu kennen, von denen er glaubt, dass sie ihn in ein besonders günstiges Licht rücken. So spult er dann, vollends geschieden von den Konturen seiner wahren Persönlichkeit, alle einstudierten Phrasen über sein Engagement, seine interkulturelle Kompetenz und seine Ambitionen (irgendwann einmal Abteilungsleiter sein) ab.
Das Verkaufen des entworfenen Bildes von der eigenen Person strengt an. Stets muss eine Balance gefunden werden: Es ist spürbar, dass er ambitioniert wirken möchte, aber nicht übermäßig ehrgeizig, entscheidungsfreudig, ohne dass der Eindruck entstehen könnte, er überginge die Kollegen, und seriös, wobei er nicht vergisst ab und an mit gekünsteltem Lächeln gespielte Lockerheit einzustreuen. Das ganze Ausmaß des Dilemmas wird allerdings erst ersichtlich, als das Gespräch bereits zu Ende ist und die drei ‚Richter‘ beginnen auf vorgefertigten Bewertungsbögen eifrig Kreuze zu setzen. Obgleich sie zwar formal höher gestellt sein mögen als der bemitleidenswerte Angestellte, den sie bewerten, handeln auch sie letztlich nur mittelbar. Ihre Entscheidungsgewalt beschränkt sich – zumindest in diesem Zusammenhang – darauf, anhand der neuesten Studie der Professoren XY von der Universität Z auf schier endlosen Seiten Papier Kreuzchen zu setzen und dem so Bewerteten im Nachhinein anhand von vorgefertigten Antworten seine Fehler aufzuzeigen. In einem lichten Moment, der die vorgespielte Tragödie kurzfristig durchbricht, offenbart einer der Manager, dass sich letztlich alle Beteiligten in der Mühle der Mittelbarkeit befinden: „Es ist weniger, dass die Firma das [die Bewertung der Mitarbeiter] fordert. Ich sag mal, der Markt fordert das und Mitarbeiter merken auch sehr, sehr stark selbst, was gefordert ist, um letztendlich im Beruf oder in der Aufgabe halt eben erfolgreich zu sein.“ (Losmann, Work Hard-Play Hard)
Für einen kurzen Moment ist das Schauspiel unterbrochen, die Manege entzaubert und die Clowns demaskiert. Der Markt wird als Schuldiger benannt, der die Dompteure zur Dressur zwingt, die Dressierten zum konformen Verhalten. Aber ist nicht der Markt letztlich nichts anderes als die Gemeinschaft aller Menschen? Liegt es folglich nicht auch in der Hand der Menschen Veränderungen herbeizuführen? Doch ein befreiendes Ausklinken aus der Mühle würde wohl von all den anderen Markthörigen wirtschaftlich abgestraft werden, sodass die Tragödie schließlich ihre Fortsetzung findet. Nach dem Durcharbeiten aller Bewertungsbögen ruft das Dreigespann den nun eingestuften Mitarbeiter zu sich zurück. Nahtlos findet sich dieser wieder in seine Rolle ein und stimmt noch willfährig der vorgebrachten Kritik zu, ganz so, als hätte er das Monierte, das vorhanden sein muss, aber nicht zu schwerwiegend sein darf, gezielt gestreut und würde sich nun freuen, dass genau diese Fehler ihm vorgehalten werden. Schließlich hat der Zirkus ein Ende. Bevor der nächste Mitarbeiter seine Vorstellung geben kann, werden die Ergebnisse in eine Software eingespeist, mit der das Unternehmen sein Humankapital verwaltet. Menschen werden in eine Vielzahl von nichtssagenden Diagrammen umgewandelt und anhand des ermittelten Potentials in eine Rangliste eingeordnet. Unterdessen hofft der gerade Entlassene inständig, dass ihn der Computer als ‚High Potential‘ ausweist, damit er irgendwann einmal auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen und fleißig Kreuze setzen darf.
Vereinzelt ist allein das Verbiegen der eigenen Persönlichkeit nicht mehr ausreichend, um dem Arbeitgeber zu gefallen. Zusätzlich muss auch das persönliche Umfeld auf Linie gebürstet werden. So fordert der französische Pharmakonzern Servier von Bewerbern, drei Personen zu nennen, mit denen man in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat, und weitere drei, die man privat kennt. Alle sechs werden von einem Personalberater kontaktiert, der für das Unternehmen Informationen über die Bewerber einholt. (Vgl. Töpper, Verena, Wie ich Lena um ihren Job brachte, auf: SPIEGEL Online, 03.06.2014). Ein Arbeitgeber, der so viel Chuzpe aufbringt die Aushorchung des Privatlebens zu institutionalisieren, wird den Mitarbeitern morgen ihren Speiseplan diktieren und übermorgen die Wohnung inspizieren wollen.
Es zieht dann Strenge ein in das Kinderzimmer, das nie eines war, und in den Zirkus, der immer nur die anderen unterhalten hat, nie die Dressierten. Auf dem leeren Blatt werden Gebote und Verbote notiert, die allein am wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet sind. Menschliches kommt hier – wenn überhaupt – nur als Randnotiz vor. Eine Mitarbeiterin, die ebenfalls jene von Losmann dokumentierte Potentialanalyse durchlaufen muss und die es sich herausnimmt, keine vorgefertigten Phrasen als Antworten zu missbrauchen, stattdessen frei erzählt, immer wieder unterbrochen von herzhaftem Lachen – auch über die albernen Fragen der Unternehmensberaterin –, wird für ihr Verhalten abgekanzelt. Ihr Lachen könne auf andere Menschen irritierend und unpassend wirken, so die Beraterin. So sieht es also aus, wenn der Dompteur mit der verbalen Peitsche ausholt gegen denjenigen, der sich nicht fügen möchte, der Ungehorsam zeigt, der sich der Dressur widersetzt, der sich noch als Mensch zeigt.