Wenn gegenwärtig im Nahen Osten, in Vorder- und Zentralasien Krieg und Terror den Alltag beherrschen, die Menschen deshalb flüchten müssen, wird eine wesentliche historische Ursache allenfalls am Rande erwähnt: Als die europäischen Staaten ihre kolonialen Abenteuer beendeten (oder beenden mussten), versündigten sie sich ein letztes Mal an ihren Untergebenen, indem sie willkürlich Staatsgrenzen festlegten – Grenzen, um die die Einheimischen nicht gebeten hatten, die auf Familien- und Stammesverbände keine Rücksicht nahmen, die letztlich einzig in die Welt der abziehenden Kolonialherren passten. Was offiziell als Unabhängigkeit daherkam, war mit einem Ballast beschwert, der eine gesamte Weltregion ins Verderben reißen sollte.
Die Wandlung zu Nationalstaaten, die in Europa in dutzenden Kriegen und Revolutionen Millionen Tote forderte, wurde im Orient oftmals über Nacht vollzogen. Hierbei war der Wille zur Staatswerdung – wenn überhaupt – nur bei einer Minderheit der Einheimischen vorhanden. Folglich wurden die Kriege und Verwüstungen in den folgenden Jahrzehnten nachgeholt, derweil in Europa die Politiker in all ihrer Selbstherrlichkeit die Wiederholung der Geschichte diagnostizierten, die sie selber herbeigezwungen hatten. Wenn es zum Wesenskern des Kolonialismus gehört, ferne Erdwinkel in das eigene Ebenbild verwandeln zu wollen, dann war dessen Schlussakt sicherlich am effektivsten – ganz so, als wäre den Menschen in Europa bereits der Gedanke unerträglich, die Welt könne auch nach anderen Gesetzen und Strukturen als den eigenen funktionieren.
Der Nomade von einst steht unterdessen den neuen Grenzen aus einer fremden Welt, die seiner eigenen aufgezwungen wurden, rat- und hilflos gegenüber. Er muss erst noch begreifen, dass sein Leben von den meisten Europäern in deren Egozentrik immer schon als Anachronismus verachtet, bestenfalls als Kulisse für Abenteuer-Romantik geschätzt wurde. Die Erkenntnis, dass das eigene Dasein wie durch einen magischen Handstreich nichts mehr zählt, sickert nur langsam durch: „’Wie ist es möglich? Wie konnte das nur geschehen?‘ Er sprach zu niemand Besonderem. Der Sohn sah seinen Vater aus zwei Schritt Abstand an, wie er es fast sein Leben lang getan hatte. Wieder zupfte der General seinen Mantel zurecht, und es versetzte seinem Sohn einen Stich, als er begriff, dass dieses Kleidungsstück, das Würde, Stolz und Macht bedeutet hatte, binnen weniger Minuten zum ganz gewöhnlichen Umhang eines alten Mannes geworden war, der sich bemühte, seine Gedanken und seinen Körper zu verbergen.“ (Ahmad, Jamil, Das Sterben der Kamele, in: ders., Der Weg des Falken, 2. Aufl., Hamburg 2013, S. 62.)
Die beschriebene Verwandlung von einem mächtigen Anführer, der eine eindeutige Rolle ausfüllt, zu einem gewöhnlichen, alten Mann ist einer Erzählung des pakistanischen Autors Jamil Ahmad entnommen. Bei dem Betroffenen handelt es sich um Serdar Karim Khan Kharot, der von den Männern seines Stammes – aus einem Grund, den niemand kennt – nur als der „General“ bezeichnet wird. Karim Khan steht einem nomadischen Stamm, den Kharots, vor, trägt stets einen purpur-goldfarbenen Mantel um die Schultern und ist zumeist in Begleitung seines Sohnes, Naim Khan, der von allen „Oberst“ gerufen wird. Beim alljährlichen Marsch, der vom Sommerlager in den Bergen Afghanistans bis in die Ebenen Pakistans führt, erreicht Karim Khan im Jahr 1958 das Gerücht, dass die Staaten erstmals willens sind, die Nomaden mit ihren Schaf- und Kamelherden ohne gültige Dokumente die Grenze nicht passieren zu lassen.
Gemeinsam mit seinem Sohn reist er zu einem Beamten, der ihm auf seine Nachfrage das Gerücht schließlich bestätigt. Durch diese Nachricht ist Karim Khan nicht allein seiner Rolle als derjenige beraubt, der über die Geschicke seines Stammes bestimmt, auch haben sich die vom Staat gesetzten Konturen, in Gestalt der Landesgrenzen, gegenüber jenen einer auf Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen beruhenden Gemeinschaft durchgesetzt. Während es innerhalb des Stammes eindeutig ist, wer die Richtung vorgibt und für Fehlentwicklungen einstehen muss, bleibt der Staat für die Kharots im Verborgenen. Den Einwänden Karim Khans entgegnet der Beamte lediglich, dass von der Regierung ein Beschluss gefasst worden sei und diesem Folge geleistet werden müsse. Da die Tiere den Winter in den Bergen ohnehin nicht überleben würden, versucht der Stamm trotz des Verbotes die Grenze zu überqueren. Eine Gruppe von Soldaten stellt sich ihnen in den Weg und eröffnet das Feuer. Viele Stammesmitglieder sowie hunderte Kamele und Schafe sterben, ehe sich ein trauriger Rest zur Umkehr entschließt.
Würde die Erzählung fortgesponnen, so würden sich wohl zuerst die jüngeren Stammesmitglieder den neuen Gegebenheiten fügen. Sie würden einen Großteil der Tiere verkaufen, in die Stadt ziehen und sich dort eine Arbeit suchen. Die Familie und der Verwandtschaftsverbund wären zersprengt, sie würden – wie es Ahmad in der Erzählung für die Soldaten beschreibt – „außer während ihrer kurzen Heimaturlaube (…) ihre Familien nie zu sehen“ (ebd., S. 56.) bekommen.
Bei dem Beschluss des Staates ging es nicht darum, dass kein Stammesmitglied einen gültigen Pass vorzeigen konnte, keiner eine Geburtsurkunde hatte und für die Tiere keine Gesundheitszeugnisse vorlagen. Es ging dem Staat einzig um die Auflösung einer Gemeinschaft und um die Entmachtung ihres Führers, der das Herrschaftsmonopol des Staates in Frage stellte, ohne sich dessen je bewusst gewesen zu sein. Ahmad beschreibt eine Beziehung, die sich für jeden neuzeitlichen Nationalstaat – auch für die europäischen – ambivalent gestaltet. Auf der einen Seite wird ein Abstammungsverbund – wie etwa die Familie – benötigt, um Bürger hervorzubringen, auf der anderen Seite ist der Staat stets darauf bedacht, diesen Verbund nicht allzu groß werden zu lassen, damit es nicht – wie im Fall der Stämme im afghanisch-pakistanischen Grenzland – zu einer Verlagerung der Loyalität kommt. Die Familie soll an Bedeutung verlieren, ohne jedoch vollends zu verschwinden.
Will ein Staat ein gerechtes Gemeinwesen installieren, so müssen Interferenzen mit Familien- oder Verwandtschaftsinteressen vermieden werden. Um einen solchen Loyalitätskonflikt zu beobachten, muss nicht einmal in die Ferne geschaut werden. Es genügt ein Blick auf die heimelige Gemütlichkeit bayerische Abgeordnetenbüros, in denen in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Volksvertreter – darunter auch einige Minister – Verwandte oder Ehepartner beschäftigten (vgl. u.a. Wittrock, Philipp, Seehofer und die Amigo-Liste: Immer Ärger mit der lieben Verwandtschaft, auf: Spiegel Online, 03.05.2013). Ein demokratischer Staat kann derartige Vetternwirtschaft nicht dulden – die Familie sollte dem Staat nachgeordnet sein, nicht der Staat der Familie. Aufgrund der leichteren Kontrollierbarkeit favorisiert er das Individuum, muss sich allerdings zum Zweck des eigenen Erhalts zumindest mit der Kernfamilie – bestehend aus Mutter, Vater und Kind – arrangieren. Das von vielen politischen Parteien vorgebrachte Plädoyer für die Familie ist eines für diese kleinste, noch vertretbare Einheit.
Wenngleich sie in Europa keine ernsthafte Konkurrenz für den Staat mehr darstellt, sind mit der Kernfamilie dennoch Strukturen angelegt, die sich in ihrer Unmittelbarkeit von denen des Staates unterscheiden. Für das heranwachsende Kind sind die Urheber der Regeln, die ihm vorgelebt werden und nach denen es sich richten soll, klar ersichtlich. Von den Eltern werden diese Regeln – sicherlich nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie – derart angelegt, dass sie einen guten Menschen und nicht einen guten Bürger heranziehen. Mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule wird die Erziehung teilweise ausgelagert. Es tritt ein zweiter Akteur mit eigenen Richtlinien auf den Plan. Zu diesem ‚Erziehungsprogramm‘ stehen Eltern und Kind lediglich in einem mittelbaren Verhältnis. Die Prioritäten sind im Vergleich zum Elternhaus tendenziell vertauscht: Es steht der Wunsch des Staates nach einem guten Bürger im Vordergrund. Nun ist nicht zu leugnen, dass es in Demokratien große Überlappungen zwischen den beiden Bereichen gibt: Die Eltern eines Kindes müssen nicht fürchten, dass die Moral- und Wertvorstellungen ihres Sprösslings in der Schule systematisch korrumpiert werden. Derartige Vorgehensweisen kennzeichnen diktatorische Staaten. Doch auch wenn eine direkte Manipulation nicht gegeben ist, bleibt eine Spannung bestehen zwischen Regeln, deren Urheber unmittelbar ersichtlich sind und solchen, die diffus bleiben.
Innerhalb eines Stammes wie dem der Kharots existiert eine solche Konfusion nicht, weil es keine Trennung zwischen gemeinschaftlicher (familiärer) und gesellschaftlicher (staatlicher) Sphäre gibt. Die Ohnmacht, die Karim Khan im Gespräch mit dem Beamten empfindet, war ihm bis dato nicht untergekommen. Er wird von dem Staatsdiener mit einer Endgültigkeit konfrontiert: „Die Entscheidung ist gefallen und lässt sich [von euch] nicht wieder rückgängig machen. Ihr werdet sie akzeptieren müssen und versuchen, damit zu leben.“ (Ahmad, Das Sterben der Kamele, S. 62.) Wer in dieser Konstellation Veränderungen herbeiführen möchte, muss weite Umwege in Kauf nehmen, von einem vermeintlichen Entscheidungsträger zum nächsten irren. Im Gegensatz dazu bietet die Familie den ‚direkten Dienstweg‘ an, um gegen (gefühlte oder tatsächlich vorhandene) Ungerechtigkeit vorzugehen.
Einer Idealisierung von Familien- oder Stammesverbänden braucht allerdings auch niemand nachzuhängen: Wo der ‚Dienstweg‘ kurz ist, sind Willkürherrschaft und Gewalt oftmals ohne jedes Korrektiv. Auch das Individuum, das sich frei von Zwängen entwickelt, ist derartigen Lebensformen weitestgehend fremd. Dass jedoch auch das aufklärerische Ideal vom Staat als Zusammenschluss freier und gleicher Menschen keineswegs den Königsweg ausleuchtet, davon zeugen seine unablässigen Beschneidungen, die von ihm erzeugte Orientierungslosigkeit als auch das zyklische Umschlagen in sein Gegenteil – inklusive eines aberwitzigen Blutzolls. Europa taugt nicht als Entwicklungsmodell für den Rest der Welt, weil es die eigenen Ideale zu oft selber nicht ernst genommen hat. Davon zeugt vor allem auch der Umgang mit den ehemaligen Kolonien: Die Intoleranz gegenüber anderen Lebensformen, die nicht als andersartige Entwürfe akzeptiert, sondern einzig als rückständige angesehen wurden, hat ein Chaos herbeigeführt, das diese Regionen bis heute beschäftigt und noch für viele Jahrzehnte beschäftigen wird. Es macht fast den Eindruck, als hätte man in Europa versucht, die eigene Geschichte zu naturalisieren: Die gemachten Fehler sollten in den Rang eines Naturgesetzes erhoben werden, indem sie einem anderen Erdteil aufgenötigt wurden. Es wäre besser gewesen, man hätte sich selber beim Wort genommen, Toleranz walten lassen und den Menschen nicht das europäische Modell einer Staatswerdung aufgezwungen – die Kamele würden noch leben und – weit wichtiger noch – Millionen Menschen mit ihnen.