Eine wesentliche Funktion der Kunst ist das Aufbrechen erstarrter Wahrnehmungsschemata, der Bruch mit dem allzu Vertrauten, um ein neues Sehen, zugleich das Sehen eines Neuen, des Möglichen, zu realisieren. Gesellschaftliches Probehandeln in Text und Bild muss Falten in den Schleier der kapitalistischen Warenwelt werfen (der Mensch und Objekt gleichermaßen konturlos macht), um ad radices, zu den gesellschaftlichen Widersprüchen zu gelangen. Wer hier nur verziert, wer auf den Effekt des Schnörkels setzt, der mag viel Geld verdienen können, dem mag auch der kenntnislose Zuspruch der vermögenden Käufer sicher sein, doch als Künstler hört er oder sie auf zu existieren.
Wenn die Kunst beginnt, sich am Markt zu orientieren, wandelt sich der Maßstab: Gute Kunst ist fortan solche, die am Markt bestehen kann, noch besser ist solche, die in diesem Feld auftrumpft. Es vollzieht sich in diesen Fällen ein Ersetzungsvorgang, den der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel an Beispielen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen illustriert (vgl. Was man für Geld nicht kaufen kann, 4. Aufl. Berlin 2012): Der Marktwert des Kunstwerks kann dessen künstlerischen Wert korrumpieren, sofern dieser überhaupt noch vorhanden ist. Der Unterschied zwischen Ramsch und tatsächlich Bedeutendem löst sich zusehends auf, beides wird als gleichwertig behandelt; das Glätten jenes Schleiers wird gepriesen, seine Problematisierung tritt in den Hintergrund. Der amerikanische Maler Eric Fischl beschreibt diese Entwicklung, die insbesondere die bildenden Künste betrifft, folgendermaßen: „Irgendwann erwischte ich mich selbst bei dem Gedanken, dass ich einen anderen Künstler beneidete, dessen Werke noch teurer gehandelt wurden als meine. Und ich beneidete ihn nicht, weil ich seine Kunst besser fand. Sondern weil ich dachte, er verdient mehr, also ist er ein besserer Künstler“ (Rauterberg, Hanno, Vom Geld gedemütigt, in: Die ZEIT, 9 (2014), S. 47).
So hängen dann die Werke der ‚besseren‘ Künstler in den Appartements der Metropolen, in den Strandhäusern und Villen der Superreichen, wo sie der umherschlendernde Parvenü auf einer Cocktailparty entdeckt. Schnell findet er den Namen des Künstlers heraus, ruft einen Agenten an, der den Schöpfer schließlich bittet sein letztes – selbstredend vortreffliches – Werk noch einmal zu malen. Der Künstler ist degradiert zum Produzenten von Ware. Der Gedanke, das Kunstwerk habe seine Zeit, an die es gebunden ist, habe auch einen Ort, für den es bestimmt ist – nämlich die Öffentlichkeit –, wird hier und da vielleicht noch geäußert, aber nicht mehr gehört. Die Macht geht von den – zumeist schwerreichen – Vertretern des Marktes aus, den Agenten, Galeristen und Sammlern. Sie führen das Wort in aller Bestimmtheit, gewöhnt den Ton der Herrschaft zu gebrauchen: „Ich möchte eine Ausstellung mit dir machen (…) Du hast drei Monate Zeit und musst ein paar neue Bilder malen“ (Knobbe, Martin, Dolce Vito, in: Stern, 15 (2014), S. 57). War es früher noch so, dass sich die Sammler vor allem auf jene Werke stürzten, um die hitzige Debatten entbrannt waren, so wird der Aufruhr heute durch die im eigenen Privatmuseum angestellten Kuratoren und Kritiker künstlich entfacht. Durch diese Praxis geht das Risiko verloren, dass der als Kunst verkleidete Nonsens (oder gravierender noch: die derart maskierte Ideologie) auch einmal als solche(r) enttarnt werden könnte, sodass die investierten Millionen schließlich verpuffen würden. Der neue Sammlertypus verlangt nicht nach gefährlicher (i.e. risikobehafteter) Kunst, um deren Wert – jenseits des Ökonomischen – noch gerungen wird, sondern nach einer sicheren Geldanlage (vgl. Timm, Tobias, „Eine Revolte für die Kunst“ – Ein Gespräch mit Georg Seeßlen, in: Die ZEIT 35 (2014), S. 46).
Die Macht der Wirtschaftlichkeit über die Kunst beeinflusst ihre Produzenten. Sie versuchen zu antizipieren, wonach der Markt in Kürze verlangen könnte oder aber sie produzieren gleich Auftragskunst. Sie verhalten sich maximal wohlerzogen gegenüber jenen vermeintlichen Gesetzen, denen sie nichts entgegensetzten wollen oder können. Eric Fischl beschreibt, wie er an einer Universität einen Vortrag vor Studenten hielt. Anstatt Fragen zu seinem Werk zu stellen, interessierten die Künstler von morgen vor allem wirtschaftliche Belange: Wer bezahlt den Rahmen? Wird mit den Galeristen ein Vertrag geschlossen? Welche Strategie ist die erfolgversprechendste? Was Jens Jessen vor einem knappen Jahrzehnt polemisch über die Jugend formulierte, scheint nicht nur marginal noch heute zu gelten: „Soll man staunen über die Studenten, deren Berufswünsche Geld und Sicherheit heißen? (…) Über angehende Künstler, die keinen Charakter, sondern nur Erfolg auf dem Markt suchen? Kaum geschlüpfte Küken mit feuchtem Federkleid und großem Schnabel, „hungrig“ nennt man wohl diesen enthemmten Appetit in der Sprache der Personalberater. (…) Die Praktikanten und Berufsanfänger akzeptieren bis zur Charakterlosigkeit jede Bedingung, jede eingespielte Dummheit, jede ethisch bedenkliche Praxis. Sie blicken aus Rehaugen, die sich nur manchmal melancholisch verschleiern, auf die raue Welt der Wirtschaft und Politik und scheinen den Schwur getan zu haben, so schnell wie möglich zum Haifisch zu werden, um auch dort zu überleben, wo es von Feinden wimmelt“ (Jessen, Jens, Die traurigen Streber. Eine Polemik, auf: ZEIT Online, 28.08.2008). In der Wirtschaft, in Banken und Unternehmensberatungen sollte einem das Antreffen dieses Charaktertypus nicht wundernehmen, haben doch die vergangenen Jahre reichlich Verwesungsgestank von Anstand und Moral aus diesen Institutionen entweichen lassen. Doch in der Kunst? Hat der entlarvende, aufdeckende, auch antizipierende Schein überhaupt noch einen Platz neben (oder hinter) der Charaktermaske des verkaufswilligen Künstlers und seiner derart zugerichteten, entstellten Schöpfung.
Maßgeschneidert für den Markt wird die Frage nach der gesellschaftlichen Wirkung der Kunst vollkommen uninteressant. Entgeistert erzählt ein junger amerikanischer Schriftsteller davon, dass er in Europa gefragt worden sei, was er davon halte, dass manche Frauen Ganzkörperschleier tragen. Er habe sich schlicht gedacht: What do I care. Hierbei handelt es sich nicht um die Reanimation eines weltabgewandten Ästhetizismus, sondern um aufrichtiges Desinteresse und Unkenntnis. Während die eigentlichen Funktionen der Kunst marginalisiert, wenn nicht gar getilgt sind, drängt sich der simple Effekt in den Vordergrund. Extravaganzen im Kunstwerk als auch im eigenen Auftritt scheinen sich bewährt zu haben, um auf dem Markt erfolgreich bestehen zu können. Wichtig ist, dass dies selten Konventionsbrüche sind, die Kunst eigentlich verdient hätte zu vollziehen und die sie jahrhundertelang vollzogen hat, sondern dass diese Brüche allein oberflächlich sind. Sie modellieren für den Verkauf, setzen auf diesen oder jenen schnellen Effekt, rühren allerdings nicht am Substanziellen. Es handelt sich um Avantgardismen, die ihren Namen nicht verdienen, da sie gegen nichts kämpfen, sondern nur bedienen.
Die Klage über die Wirtschaftlichkeit als ultimatives Maß für die Kunst ist nicht neu, sie wurde bereits vorgebracht, als das moderne Wirtschaftssystem noch in den Kinderschuhen steckte. In einem Lehrgedicht aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bringt der Dichter Jakob Immanuel Pyra sehr plastisch eine Weggabelung zur Vorstellung, von der ein Pfad zur wahren, der andere zur falschen Poesie abzweigt. Ohne auf Pyras Konzept der wahren Poesie näher eingehen, geschweige denn, es sich zu eigen machen zu wollen, ist es bezeichnend, womit die falsche Poesie lockt. Prächtige Bauten umgeben sie, zu allen Seiten funkelt es und Überfluss und Rausch sind längst gewöhnlich geworden. „Sie rief und suchte mich durch falschen Ruhm zu locken./ Der reiche Geitz schloß selbst die vollen Schätze auf,/ Er zeigte mir sein Gold, mich dadurch anzureitzen,/ Daß ich der Laster Brut mein Spiel verkaufen soll./ Die falsche Dichtkunst fing mich also an zu locken:/ Komm, lerne hier die Kunst, wie man recht hurtig reimt(…) Dein Reim wird lauter Gold und Diamanten streun,/ Mein grosser Anhang wird dein goldnes Lied bewundern“ (Pyra, Jakob Immanuel, Der Tempel der wahren Dichtkunst, in: Lange, Samuel Gotthold (Hrsg.), Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder, 2. vielvermehrte Aufl., Halle 1749, S. 88). Die falsche Poesie bedient sich jener Lockmittel, die heute vom Markt angewandt werden. Über einen simpel herzustellenden Effekt soll sich Ruhm und Reichtum „hurtig“ einstellen. Der Unterschied jedoch besteht darin, dass heute anstatt des Reimes größere Extravaganzen benötigt werden, um noch hervorstechen zu können. Damit die Abgrenzung von der Masse gelingt, beschränken sich viele Künstler nicht mehr nur darauf, effekthascherische Waren zu produzieren, sondern modellieren auch ihre eigene Person nach der (A)Logik des Marktes.
So umkurvt ein knapp fünfzig Jahre alter Künstler in Karohemd, Bermudashorts und übergroßer Sonnenbrille die Anzugträger in einer Galerie, die seine Werke zeigt. Ein anderer beklebt jedes einzelne seiner Bilder mit einem benutzten Kaugummi, während der nächste sich wiederum allein im Schlafanzug in der Öffentlichkeit zeigt. Sie alle setzen auf Effekthascherei und hoffen inständig, dass sich der Markt ihrer und nicht der eines anderen Künstlers bedient. So kann mit ein paar wilden Pinselstrichen oder extravagant verfremdeten Fotografien der gesellschaftlichen Randlage entflohen werden. Entweder verglüht die Neuentdeckung der Saison oder sie etabliert sich und steigt auf in die Sphäre der Millionenauktionen. Dort angekommen ist alles weitere ohnehin soziale Inzucht. Man ebnet sich gegenseitig die Wege, klopft an deren Ende einander auf die Schultern und versichert sich, wie vortrefflich sich doch alles gefügt habe. Die Geschäfte werden so lange laufen, wie Menschen in der Lage und willens sind, für nichtssagenden Unsinn astronomische Summen auszugeben.
Zugleich dient sich auch die Öffentlichkeit – ob nun bewusst oder unbewusst – dem Markt an und zementiert auf diesem Weg die Konturlosigkeit. Jenseits von Spartenkanälen oder Fachzeitschriften kommt Kunst allein als Marktgeschrei vor. So wird in den Nachrichten von Auktionen berichtet, auf denen neue Rekordsummen angepeilt werden oder von der Entdeckung eines Normalbürgers, der auf dem Flohmarkt oder auf seinem Dachboden ein Werk eines alten Meisters gefunden hat. Der Bericht über den sensationellen Fund endet stets mit dem Verweis auf den geschätzten Marktwert, denn allein an ihm bemisst sich der Nachrichtenwert. Dem von den Medien vermittelten Bild fügen sich die Menschen. Sie hetzen durch die Museen dieser Welt, den Fotoapparat immer im Anschlag, auf dass kein Multimillionenwerk der Dokumentation entgehe, vielleicht gibt es gar einen Eintrag im „Lonely Planet“, hinter dem ein Häkchen gesetzt werden kann.
Dass auch der Text vor derartigen Tendenzen nicht gefeit ist, zeigen amerikanische Romane aus den 1980er Jahren. Produziert von einer neuen Spezies von Dandys, die über das eigene Großstadtleben schreiben, das totum pro parte für Bars, Koks und Nutten steht, wird auch hier der Text nicht als Kunstwerk, sondern der Autor und sein Image verkauft. Am Roman interessiert allein das Ausmaß der beschriebenen Exzesse. An diesem Kriterium bemisst sich die Innovation, während doch eigentlich das Immer-Gleiche beschrieben wird. Ebenso angepasst an den Markt kommt laut Maxim Biller die von Migranten geschriebene deutsche Gegenwartsliteratur daher. Das leitende Kriterium ist in diesem Fall jedoch ein anderes: Nicht der Drogenrausch in der Großstadt ist gefragt, sondern das Aufgehen in der Belanglosigkeit. Die deutsche Gegenwartsliteratur sei – so Biller – absolut folgenlos, eine breite gesellschaftliche Debatte über einzelne Werke oder Strömungen existiere nicht. Die Diagnose ist nicht neu. Dass sie immer noch gestellt wird, zeigt, dass nur schwer jemand ausgemacht werden kann, der das Einerlei der Konturlosigkeit durchbricht. Diejenigen, die sich hierzu am besten eignen würden, sind die, die den Blick von außen mitbringen. Doch anstatt Brüche zu vollziehen, indem im Schreiben der eigenen Fremdheit Platz eingeräumt wird, würden sich die Migranten „sprachlich meist für den kalten, leeren Suhrkamp-Ton oder für den reservierten Präsensstil eines ARD-Fernsehspiel-Drehbuchs [entscheiden]. Und auch ihre Helden sind relativ unglückliche, gesichtslose Großstadtbewohner mit nichtssagenden Nuller-Jahre-Vornamen, mit Liebes- und Arbeitsproblemen, ohne Selbstbewusstsein und festes Einkommen, dafür fest im Griff von Facebook, Clubwahn und HBO“ (Biller, Maxim, Letzte Ausfahrt Uckermark, in: Die ZEIT, 9 (2014), S. 45). Für die erfolgreiche Anpassung an die Inhalte und den Stil der Autochthonen schütten diejenigen, die an den Hebeln des Marktes sitzen, die Migranten mit Preisen zu. Die Fremden existieren nur als Geste, als Beweis von Multikulturalität, jedoch nicht in ihrem Anderssein. Nicht nur in der Politik, auch im Kulturbetrieb scheint der innige Wunsch zu bestehen, im Anblick des Anderen sich selber erkennen zu können. Im Hintergrund flackern noch schwach Anekdoten aus der ehemaligen Heimat, die den deutschen Ureinwohnern als Ausweis ihrer Offenheit dienen, sodass sie eifrig überall die Bezeichnungen „international“ und „interkulturell“ aufdrucken können. Wer sich derart einfach in die Anpassung ködern lässt, der arbeitet dem „depremierende[m], pseudoliberalen Angela-Merkel-Konsens“ (ebd.) und damit einer konturlosen Welt zu: „Hier, wo der Gemeinschaftswille alles bedeutet und das exzentrische Ich unter dauerndem Pathologieverdacht steht (…), ist längst wieder wie zu Kaisers Zeiten jeder Gedanke eine Uniform, jeder Satz klingt wie der andere“ (ebd., S. 46).
Sicherlich visiert Biller ein anderes Ziel an, hat eine andere Vorstellung von bedeutsamer Literatur, auch die für ihn typische Generalverdammung geht sicherlich zu weit, doch seine Diagnose bleibt tendenziell korrekt: Wer in Leipzig oder Hildesheim das Schreiben lernen muss, der produziert wahrscheinlich ästhetische Spielereien, aber kaum Politisches. Womit nicht das Einmischen in die Tagespolitik in Form von grass’scher engagierter Lyrik, die ihren Namen nicht verdient, gemeint ist, sondern Literatur, die im ursprünglichen Sinn des Wortes politisch ist. Sie muss das Gemeinwesen – die Polis –, die Menschen, erreichen, indem sie ihnen die Köpfe durchpflügt – und zwar im Bezug zur Gegenwart, nicht mit der millionsten künstlerischen Durchwanderung der deutschen Diktaturen, bei der das Urteil ohnehin nicht mehr ausgehandelt werden muss. Im Jetzt müssen liebgewonnene Gewohnheiten und Überzeugungen hinterfragt werden, die Keule des Andersseins muss mit aller Wucht zuschlagen, denn nur wenn sich derart klar positioniert wird, kann es Widerrede geben und damit ein Voranschreiten. Für die Gegenwart bedeutet dies, sich mit der eingangs erwähnten Verschleierung gesellschaftlicher Widersprüche auseinanderzusetzen – etwa in Gestalt einer Auseinandersetzung mit dem Familiengeschwätz in den Unternehmen, in der Befreiung der Idealisten aus den Gefilden der Lächerlichkeit, in der Demaskierung einer Zeit, die das Ende der Geschichte vortäuscht, hierüber die Menschen blind durch die Konturlosigkeit stolpern lässt, jeder Manipulation und jeder dummen Einflüsterung schutzlos ausgeliefert. Diese Pfade sind vorgezeichnet, etwa bei Thomas von Steinaecker, Terézia Mora und Ulrich Peltzer, doch sie sind nur schwer zu erkennen; denn obwohl diese Texte – im Gegensatz zu den kritisierten – an die Wirklichkeit anknüpfen, stehen sie doch einsam und unscheinbar, weil sie eben nicht auf den billigen Effekt, sondern auf Durchdringung, auf echte Avantgarde anstatt auf Scheinkämpfe setzen.