Die Revolution, ja jeder kleine Aufruhr ruft zunächst „Freiheit“, womit zuvorderst die „Befreiung“ von bestimmten Zuständen oder Personen gemeint ist (Isaiah Berlin). Stellen sich Erfolge ein, so ist die Freiheit vollkommen exponiert und ungeschützt – sie kann einem leicht wieder genommen werden. Uneingeschränkte Freiheit kann auch eine Bürde sein; sie zu delegieren, es sich bequem zu machen, erscheint manch einem dann verführerisch; vielleicht wächst vereinzelt gar die Sehnsucht nach einer starken Hand. In Russland bedienten 1917 die Bolschewisten diese Sehnsucht und sie packten derart fest und geschickt zu, dass es quasi über Nacht zu einem ‚Einfrieren‘ der Zustände kam: Aus einer Möglichkeit unter vielen wurde ihr Weg zum einzig gangbaren.
Der Blick von innen – Existieren ohne jeden Halt
Die ungeschriebenen Gesetze des sowjetischen Totalitarismus wurden in den Wochen nach der Oktoberrevolution auf den Weg gebracht. Reichlich Grenzen wurden eingezogen, dies jedoch im Verborgenen – Konturen wurden für die Menschen nicht erkennbar. Bereits in diesem Moment hörte die Freiheit auf zu existieren und es hätten sich eigentlich nicht mehr nur jene fürchten müssen, die tatsächlich konterrevolutionär gesinnt waren, sondern auch alle anderen. Doch die meisten Menschen wähnten sich noch frei, sie bemerkten nicht, dass ihre leise Unterstützung oder auch nur die Duldung der Bolschewisten sich längst in ein totales Bekenntnis verwandelt hatte, dem man sich fortan widerspruchslos zu beugen hatte. Als die Bolschewisten bei der Wahl für eine verfassungsgebende Versammlung nur ein Viertel der Stimmen erlangten und die Errichtung einer Republik zu befürchten stand, löste Lenin die Versammlung kurzerhand auf. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es nur mehr Schwarz oder Weiß, das Bekenntnis für oder die Feindschaft zu den Bolschewisten. Es existierte jenseits aller Gesetze und Regelungen eine Grenze zwischen Herrschenden und Beherrschten, die jedoch nicht eingestanden wurde – offiziell waren alle Brüder. Die Ideologie verstellte den Blick auf Schikane, Ungleichheit und individuelle Eigenheiten. Manche redeten – selbstverständlich nur noch vertraulich – davon, dass die Revolution instrumentalisiert, missbraucht, gestohlen worden sei. Sie bedienten sich noch des Vokabulars einer Ordnung, die bereits nichts mehr zählte.
Jenseits dieses kaum vernehmbaren Widerstands war das Bekenntnis vielfach ein stilles und es schloss die unausgesprochene Zustimmung zum Kreieren eines neuen Menschen ein, der all seinen Gedanken und Handlungen eine Uniform überstreift. Wer meinte vom vorgegebenen Ideal abweichen zu müssen, der fand sich rasch entweder vor einem Richter oder vor einem Gewehrlauf wieder. Das Vorgehen gegen die Häretiker, die sich dem menschlichen Bedürfnis nach Unterscheidung hingaben (dem natürlich auch die Herrscher nicht widerstanden; doch sie konnten es sich leisten), setzte im Großen an und schritt fort zu immer nichtigeren Differenzen. Zunächst richtete sich der Terror nach außen gegen all jene, die offen gegen die Weisungen der neuen Herrscher rebellierten, etwa gegen Bauern, die sich weigerten einer Kolchose beizutreten oder gegen Adlige, die tatsächlich meinten, auf ihren Grundbesitz beharren zu können.
Doch schon bald wandte sich die Gewalt nach innen. Sie begann, die eigenen Reihen zu lichten, wobei sie vom Entstehen einer Raserei befördert wurde, denn überall waren Differenzen ersichtlich; und wer sich als treuer, dem Bekenntnis verschriebener Revolutionär auszeichnen wollte, der ging gegen sie alle vor. Maßloser Terror akzeptiert keine Grenzen, egal welcher Art. Da er dennoch immerzu welche entdeckt, weil das Leben sich notorisch gegen jede Form der Uniformierung sperrt, wächst er sich zu einer Hysterie aus. Die Gewalt wird zum ersten Mittel der Selbsterhaltung, die irgendwann auch dort Unterschiede finden muss, wo eigentlich überhaupt keine existieren. „‘Untergrabung und Schwächung der Macht‘ war jeder Gedanke, der in Inhalt und Intensität hinter der diestägigen Zeitung zurückstand. Denn es schwächt alles, was nicht stärkt! Denn es untergräbt alles, was nicht ganz entspricht!“ (Solschenizyn, Alexander, Der Archipel Gulag, Bern 1974, S. 70) Die Halbwertszeit der ungeschriebenen Gesetze war äußerst kurz: Sie überlebten gewöhnlich den Tag nicht, an dem sie in die Atmosphäre der Gesellschaft entlassen wurden. Was gestern noch im Sinne der Revolution war, ist heute bereits ihr größter Feind. Obwohl sie nur noch ein nahezu bedeutungsloses, ausgehöhltes Wort ist, bleibt die Revolution der unumstößliche Bezugspunkt. Das letzte bisschen Restbedeutung, das ihr geblieben ist, beschränkt sich darauf, den umstürzlerischen Ausnahmezustand zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Hierbei ist die Erlösung, die Errichtung des Paradieses, immerzu für den morgigen Tag vorgesehen. Doch auf dem Weg dorthin müssen in der Gegenwart noch einige Opfer erbracht werden. Die ewig fortgesetzte Revolution ähnelt in ihrer Charakteristik dem Versuch, bis zum Horizont zu marschieren: Um genau die Länge eines jeden Schrittes, den man auf ihn zumacht, weicht er vor einem zurück. So wird das Ende immer wieder auf morgen verschoben und unter Berufung auf die Revolution werden die Menschen weggesperrt, gefoltert, in Arbeitslager nach Sibirien verbannt und ermordet. Allein, sie können nicht verstehen, warum jene Grausamkeiten ausgerechnet ihnen zustoßen. Sie haben noch nicht verstanden, dass auf diese Frage keine Antwort existiert. Es ist einzig wichtig, dass es Opfer gibt, warum es gerade diesen und nicht jenen trifft, ist nicht von Interesse. Es existieren Grenzen, die unsichtbar bleiben. Die Konturen verschwinden aufgrund der Willkür des Herrschaftsapparats. So irren die Menschen durch die konturlose Welt und können nicht verstehen, warum ausgerechnet sie verfolgt werden oder verschont bleiben. Alexander Solschenizyn berichtet von einem Mann, der seiner Verhaftung entgehen konnte. Er sprang aus dem Fenster und verschwand, als die Geheimpolizei vor der Tür stand. Nach seiner Flucht konnte er sein Leben unter seinem richtigen Namen unbehelligt weiterführen. Er war auf den Listen wieder ganz nach unten gerutscht.
Auch der Blick in die geschriebenen Gesetze, wenn er den Menschen denn gewährt wurde, bot keinerlei Abhilfe bei der Suche nach den Gründen für Verhaftung und Strafmaß. Zu vage und allgemein waren sie gefasst, worin die Herrschenden wohl ihre größte Stärke sahen. Zwei Menschen treffen sich regelmäßig: es muss sich um Spione handeln; ein Ingenieur möchte, dass die Züge unter Volllast fahren: er will die Infrastruktur sabotieren und auf diese Weise die Revolution ausbremsen; jemand führt regelmäßig Tagebuch: pauschal verdächtig, weil er oder sie anscheinend etwas zu verheimlichen hat. Gerne wurde auf die Phrase „Feind des Volkes“ zurückgegriffen, doch „[g]erade die völlige Fiktivität der Begründung macht die Dechiffrierung solcher Zeichen zu einer deutlich langwierigeren Angelegenheit“ (Ryklin, Michail, Kommentar zur Erzählung meiner Mutter, in: ders., Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main 2003, S. 56). Da also weder die geschriebenen noch die ungeschriebenen Gesetze Konturen aufzeigten, blieben all die Ungeheuerlichkeiten ohne identifizierbaren Urheber. Der Zorn konnte sich vielleicht kurzfristig abkühlen, an den Geheimpolizisten, die einen abholten, an den Untersuchungsrichtern, die einem Verbrechen andichteten, die keine waren, oder an den Beamten in den Gefängnissen, die einen beaufsichtigten. Doch es war offensichtlich, dass sie alle letztlich nur mittelbar handelten. Und wer Augen und Ohren in der Hoffnung auf Orientierung ganz nach oben richtete, der konnte zwar bereits kurz nach der Oktoberrevolution Lenin von der „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer“ (Solschenizyn, Der Archipel Gulag, S. 36) reden hören, doch mit dem Ungeziefer verhält es sich ähnlich wie mit dem Unkraut: Was dem einen als störendes Gewächs gilt, das ausgemerzt werden muss, ist dem anderen die schönste Pflanze. So sind der Willkür alle Tore geöffnet, wobei im Unterschied zur Gartenarbeit in der Sowjetunion nicht über das Leben einer Pflanze, sondern über das von Menschen gerichtet wurde.
Von den Gesetzen und dem Herrschaftsapparat ausgehend wirkte sich die Konturlosigkeit auch auf die Menschen aus. Jede Extravaganz im Denken, Sprechen oder Handeln machte einen pauschal verdächtig, sodass derlei fortan öffentlich nicht mehr ausgestellt wurde. Trafen sich zwei Liebende regelmäßig, konnten sie in das Visier der Geheimpolizei geraten, sodass sie auf weitere Zusammenkünfte gleich ganz verzichteten. Zudem: War man sich wirklich sicher, dass der charmante Partner nicht vielleicht doch ein Spitzel war? Entscheidungen im Arbeitsleben zu fällen, konnte einen in große Gefahr bringen, ganz gleich, ob es eine Order von einem Vorgesetzten gab oder nicht. Aus diesem Grund war niemand mehr willens, Verantwortung zu übernehmen. Gelähmt lebten die Menschen hinter einem Schleier und richteten sich ein in einem Trott, der jeden Tag aussehen ließ wie den vorigen. Der Sowjetbürger durfte keine Interessen haben, er durfte nicht glauben, keine Meinung haben und nicht streiten, er durfte nicht nachdenken und sich nicht auflehnen. Kurzum, er durfte nicht leben, nur existieren – doch auch dies nur unter Vorbehalt, denn sogar die bloße Existenz, das Nichtstun konnte einem zuweilen zum Verhängnis werden, etwa wenn man den ‚Feinden des Volkes‘ nicht entschieden genug entgegentrat.
Was die Persönlichkeit der Menschen ausmachte, wo deren Grenzen verliefen, durfte auf keinen Fall zutage treten. In einer solchen Welt existiert eine planvolle Zukunft, die auf Veränderungen abzielt, nicht mehr. Die Verfolgung der Menschen hatte sich von der Realität gelöst, sie hatte keinen Kontakt mehr mit der Wahrheit und eben deshalb konnte nichts gegen sie ausgerichtet werden. So wurden die Menschen alle auf die gleiche Art unkenntlich: Das Individuelle konnte nicht mehr wahrgenommen werden. Obgleich es mit seinen je spezifischen Grenzen immer noch die Menschen voneinander unterschied, traten die Differenzen aufgrund der fehlenden Konturen nicht zutage. Wo das Eigene aufhörte und das Andere begann, spielte fortan keine Rolle mehr. Auf diese Konturlosigkeit setzte die terroristische Staatsmacht; sie hatte den Kokon des Individuellen und Privaten durchstoßen: „Wenn ein Privatgespräch bei einem Glas Wein öffentlich im Radio gesendet wird, was heißt das anderes, als daß die Welt sich in ein Konzentrationslager verwandelt hat“ (Kundera, Milan, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, 12. Aufl., München 1987, S. 132). Die Uniform in diesem Lager ‚Sowjetunion‘ streiften die ‚Insassen‘ zuallererst ihren Gedanken über.
Allein in seiner Außenwirkung erschien ein solcher Ort als ein klar abgegrenzter mit eindeutigen Strukturen. Die ‚Insassen‘ jedoch mussten sich mit Willkür und Gewalt auseinandersetzen, jeden Moment konnten sich die Umstände gegen sie wenden. Immerzu mussten die Menschen in der Sowjetunion darauf bedacht sein, nicht aufzufallen, denn steckten sie auch nur den kleinen Finger durch den Schleier hindurch, der vor ihrem Leben hing, wurden sie von der Geheimpolizei an diesem gepackt und hervorgezerrt. Folglich existierte kein offener Individualismus, er hätte einen in ernsthafte Gefahr bringen können. Viele Menschen wollten im Singular leben, im Realsozialismus allerdings herrschte der Plural. Paradoxerweise war das Kollektiv jedoch nur als ein orchestriertes, als ein befohlenes vorhanden. Als eine gewachsene Gemeinschaft hätte es die Herrschenden gefährden können, als zahn- und wehrlose Masse hingegen konnte es ihnen zur Selbstdarstellung dienen.
Ausgestellt werden konnte die erzwungene Einförmigkeit im Kommunismus nur in den Momenten, in denen ein Fremder zu Besuch kam. Auf seiner Reise durch die Sowjetunion beschlich den französischen Schriftsteller André Gide sehr oft in der Unterhaltung mit einem einzelnen Russen das Gefühl, er würde mit allen Russen sprechen. Immerzu wurde die Meinung der tagesaktuellen Prawda (Zeitung) wiedergekäut und bei Fragen, in denen das Blatt noch keine klare Linie erkennen ließ, mochte sich auch bei den Menschen eine ‚private‘ Meinung partout nicht einstellen. Wenn letztliche jede Meinung eine öffentliche ist, dann wird es überall dort gefährlich, wo noch keine offizielle Meinung existiert. Doch in der Konfrontation mit dem Fremden überstrahlt die Großartigkeit der demonstrierten Einförmigkeit für wenige Momente die Gefahren, die im Alltag mir ihr einhergehen. Die nach innen vorherrschende Konturlosigkeit wandelt sich im Kontakt mit dem Ausländer in eine große, geschlossene Kontur, die den Blick auf einen vermeintlich gleichförmigen Inhalt sichtbar macht. Ein seltsamer Stolz durchdringt die Menschen, wenn sie ihr Volk als ein einheitliches Gebilde ausstellen können. Sie können etwas vorzeigen, das sie vom Fremden unterscheidet, wodurch sich ein Gefühl der Überlegenheit einstellt. Die Differenz ist jedoch lediglich als Kontrastmittel notwendig. Anstatt den Fremden zu fragen, wie es in anderen Ländern aussieht, möchten die Menschen allein wissen, was im Ausland über die Sowjetunion gedacht wird. Der Vergleich zeigt kein tiefschürfendes Interesse am Anderen, dieser ist allein als Maßstab für die eigene Großartigkeit relevant. So wird dann die Disziplin und Rechtschaffenheit, die Ordnung oder die Möglichkeit zur Erholung in den Kulturparks gepriesen, wobei die Menschen zugleich darum wissen, dass jenes Volksgebilde an allen Enden fault, an manchen gar schon verwest ist und dass jeden Augenblick auch über ihnen selber der Leichengeruch aufsteigen könnte. Doch solange dies nicht geschieht, geht der Mensch immer stärker in der Konturlosigkeit auf und mit den Monaten, Jahren, gar Jahrzehnten verliert er das Bewusstsein dafür, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Wer in der Sowjetunion lebte, der musste sich von seiner Persönlichkeit verabschieden. Alle kulturellen Traditionen, alles Religiöse, letztlich jede Wahrheit, die einem gesichert schien, galt nichts mehr. Gefordert wurde das Ausreißen aller Wurzeln, die Auflösung aller individuellen Konturen und trotz „allen Widerstrebens (…), trotz der vielen Stunden der Verzweiflung ist endlich der große Augenblick da. Er kann mitten in der Nacht kommen, oder beim Frühstück, oder auf der Straße. Ein metallenes Knirschen wie bei dem Schalten eines Getriebes – und mit einem Male ist die Einsicht da: Es gibt ja gar keinen anderen Weg! Auf allen Breiten und Längen der Erdkugel ist nirgendwo ein anderes Heil zu finden“ (Miłosz, Czesław, Verführtes Denken, Frankfurt am Main 1974, S. 33). Doch der ‚großen Erkenntnis‘ zum Trotz, wissen zumindest diejenigen, die andere Verhältnisse noch miterleben durften, zugleich um die Lüge. Sie wissen, dass ihre Einsicht der Gewohnheit geschuldet ist, die sich auch unter den grausamsten Bedingungen einschleichen kann, oftmals gerade unter solchen Bedingungen zu einer Notwendigkeit wird, um das eigene Leben erhalten zu können. Da der Preis ungemein hoch ist, werden die Zweifel nicht zugelassen, sondern verdrängt, sodass es irgendwann notwendig scheint, dass sich die Menschen misstrauisch beäugen, dass immer wieder Bekannte und Verwandte einfach verschwinden, dass der gewaltsame Tod zur Norm wird: „[E]r schien geradezu das Modell für jede andere Todesart zu bilden, während im Westen – ungeachtet aller Kriege und Naturkatastrophen – das Paradigma des natürlichen biologischen Todes vorherrscht“ (Ryklin, Kommentar zur Erzählung meiner Mutter, S. 59). Die Gewohnheit sorgt dafür, dass der Mord nicht mehr als die Ungeheuerlichkeit erscheint, die er ist, sondern als konsequenter letzter Schritt einer stufenweisen Eskalation der Gewalt.
Zugleich deutete der Blick nach Westen, einhergehend mit der Feststellung, dass dort schlicht andere, ebenso starre Paradigmen herrschten, ein Dilemma für die Bürger der kommunistisch regierten Länder an, das über die Todesart weit hinausging. Denn laut einer Diagnose des polnischen Schriftstellers Czesław Miłosz vom Beginn der 1950er Jahre war dort, wo die Freiheit gegeben war, die zwingend gewährleistet sein muss, um ein Aufbrechen der Gewohnheiten zu ermöglichen, diese selber zu einer Gewohnheit geworden. Und anders als in der Sowjetunion würden die Menschen – aller Kriege in Europa und Amerika zum Trotz – nicht einmal ahnen, dass die bei ihnen vorherrschenden Zustände nicht in Stein gemeißelt sind. Das Gefühl, die Freiheit sei eine Selbstverständlichkeit, schränkt ihre Wirkmacht beträchtlich ein. Es wird von ihr kein Gebrauch mehr gemacht; die ‚Freiheit‘ wird zu einem ausgehöhlten Begriff. Schließlich etabliert sich in ihrem Namen, über wesentlich subtilere Methoden als Gewalt, allerlei Unfreiheit. Endpunkt dieser Entwicklung ist der von Konsum und Arbeit beherrschte Mensch, der nur mehr zu abgeflachten Gedanken fähig ist, Fortschritt allein an Wirtschaftlichkeit misst, Kunst verachtet, die sich nicht als Ware präsentiert, und den Talentlosen am lautesten zujubelt. Diese Eigenschaften werden ihm zur zweiten Haut und da sie irrtümlicherweise (gleichwohl auch bewusst) mit dem großen Wort ‚Freiheit‘ versehen sind, kann mit ihnen noch Missionsarbeit geleistet werden. „Weil sie [die Menschen im sog. Westen] zufällig in einer bestimmten Gesellschaftsordnung, innerhalb eines bestimmten Wertsystems geboren und aufgewachsen sind, glauben sie, andere Ordnungen, andere Systeme seien ‚unnatürlich‘ und lebensunfähig, weil sie der menschlichen Natur widersprächen“ (Miłosz, Verführtes Denken, S. 42). Aus der empfundenen ‚Natürlichkeit‘ der eigenen Welt leitet sich der Wille ab, sie zu verbreiten. Da sich die wenigsten Europäer und Amerikaner darüber bewusst waren (und sind), dass ihre freiheitliche Ordnung historisch gewachsen und keine naturgegebene Selbstverständlichkeit ist, setzten die Menschen in den kommunistisch regierten Ländern wenig Hoffnung in sie. Laut Miłosz hätte der Westen ihnen allein die Freiheit von etwas – und zwar vom Terror – zu bieten gehabt, nicht jedoch die Freiheit zu etwas. Die Gleichung, dass die Freiheit die Unfreiheit abgelöst hätte, wäre nicht aufgegangen. Es hätte lediglich eine subtile Form der Unfreiheit sich an die Stelle einer gewalttätigen gesetzt.
Dieses Dilemma, von zwei Übeln umzingelt zu sein, fühlten die Intellektuellen und Künstler am stärksten, bot sich ihnen doch eher als dem Normalbürger die Möglichkeit zur Ausreise. Zugleich waren sie diejenigen, auf die die Verführungskraft des Kommunismus die größte Macht ausübte. In die Lücke, die das Ausradieren aller Traditionen hinterließ, konnte der dogmatische Dialektiker stoßen. Der Philosoph, der willens war seine Studien zugunsten eines politischen Programms aufzugeben, der letztlich also aufhörte Philosoph zu sein, konnte mit den Kapitalisten, „die ihn einst als einen harmlosen Einfallspinsel betrachteten“ (Miłosz, Verführtes Denken, S. 21), den Platz an der Sonne tauschen. Der Staat entlohnte das langsame Absterben des Geistes ordentlich, sodass manch einer es vorzog, seinen Teil zum Einheitsbrei zu liefern, anstatt sich in Europa und Amerika einem System auszusetzen, in dem einem die eigene Bedeutungslosigkeit unausweichlich schien. So bestand folglich die Wahl darin, in Unfreiheit mit bedeutungslosen Werken die Bedeutung der eigenen Person zu erhalten oder in Freiheit mit bedeutungsvollen Werken die eigene Bedeutungslosigkeit zu besiegeln. Oder im Vokabular dieses Textes: Entweder man entschied sich für die Mitarbeit an der staatlich verordneten Konturlosigkeit oder ging in der vom Kapitalismus herbeigeführten Konturlosigkeit unter.
Wer sich für den erstgenannten Weg entschied, der musste mit Verboten leben, die wie alle anderen Gesetze der beschriebenen Vagheit unterlag, die allzu leicht in Willkür ausartete. Im Totalitarismus wird alles zum Zeichen der politischen Gesinnung, die mit feinem Gespür den täglichen Schwankungen der Antwort auf die Frage, was noch konformes und was bereits reaktionäres Verhalten ist, angepasst werden muss. Jede Bewegung und jede Äußerung, die Art, sich zu kleiden, sowie alle Handlungen müssen auf die aktuellsten Verlautbarungen von offizieller Seite abgestimmt sein. Die Menschen müssen der Instabilität der Zeichen Rechnung tragen, indem sie sich in ihrer Uniformität wandlungssicher zeigen. Ervin Sinkó, ein ungarischer Schriftsteller, der Mitte der 1930er Jahre die Sowjetunion besuchte, notierte in seinem Tagebuch: „Auch die Zeitung nehme ich immer wieder zur Hand, nur damit ich mir über die Wirklichkeit, die hier zu überschauen gar nicht einfach ist, so schnell wie möglich, ein endgültiges und klares Bild machen kann. Man glaubt über irgend etwas [sic] nun endlich genau Bescheid zu wissen und erkennt in der nächsten Stunde, daß man seine Schlussfolgerungen wieder einmal revidieren muß“ (Sinkó, Ervin, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935-1937 (mit einem Nachwort von Alfred Kantorowicz), Berlin 1990, S. 102).
Doch die Welt der stündlich sich ändernden Feinheiten ist bereits die hohe Schule, die erst beherrscht werden muss, wenn die groben Abweichler in Kunst und Wissenschaft bereits ausgelöscht sind. In der Frühphase der kommunistischen Herrschaft galt zunächst als oberstes Gebot, auf keinen Fall eine Zukunft jenseits des angestrebten Gesellschaftsideals zu entwerfen. Da man sich auf einen fixen Endpunkt der Geschichte zusteuern sah, konnte kein Erproben und kein Lavieren geduldet werden. Jeder Wissenschaftler musste das Ergebnis seiner Studien kennen, bevor er sie unternommen hatte. Um Wissenschaftler bleiben zu können, musste man folglich aufhören einer zu sein. Gleichermaßen galt dies für den Künstler, wobei ihm noch ein Anker zugeworfen wurde, an dem er all seine Werke anketten konnte, auf dass sie ihm nicht davonschwimmen würden. Unter dem Schirm des sozialistischen Realismus hatte der Künstler allein zivilisatorisch zu wirken – nicht schwärmerisch, nicht romantisch, nicht tragisch und schon gar nicht utopisch. Jede Mehrdeutigkeit, jeder doppelte Boden, der die Zuschauer, die Leser oder die Zuhörer zum Nachdenken hätte anregen können, wäre als ernste Gefahr für das eigene Leben auf einen zurückgefallen. Da trotz der steten Bedrohung die häretischen Gedanken in der Regel nicht einfach aufhörten zu existieren, musste das eigene Leben in ein großes Schauspiel verwandelt werden. Die wirklichen Überzeugungen mussten tief im Innern verborgen bleiben, während nach außen Treueschwüre geheuchelt wurden. Problematisch wurde es, wenn zwei Personen einander begegneten, die sich für ihr Schauspiel derselben Kunstgriffe bedienten. In einem solchen Moment kam es nur mehr darauf an, die Denunziation schneller zu vollziehen als der Andere. Es ist doch besser, die Geheimpolizei findet in seiner Wohnung bürgerliche Literatur und moderne Musik, als dass sie bei einem selber fündig würde.
Der Blick von außen – das gelobte Land?
Weiterhin problematisch ist der Kontakt mit dem Fremden, der kein Schauspiel vorträgt und einem naiv gegenübertritt im Glauben, er befinde sich im größten und vortrefflichsten Experiment der Menschheitsgeschichte. Dass dieses Experiment längst ausgeufert ist, unvorstellbare Grausamkeiten zeitigt und den Menschen alles Individuelle verbietet, kann nicht laut ausgesprochen werden. Dies wird an einem weiteren Tagebucheintrag des bereits erwähnten Autors Ervin Sinkó deutlich. Dieser befand sich auf Einladung in Russland, um dort seinen Roman „Die Optimisten“ zu veröffentlichen, immerhin ein Text über die Ungarische Arbeiterrevolution von 1919, deren Akteure sich in geistiger Verwandtschaft mit den Bolschewisten wähnten. Doch nach Sinkós Ankunft wurde die Veröffentlichung des Manuskripts immer wieder verschoben, ein Gutachten folgte dem nächsten, bis schließlich ein Professor, der eine Übersetzung des Textes ins Russische besorgen sollte, sich erbarmte Sinkós Ahnungen zu bestätigen: „[D]ie Frage ist nicht, ob mir persönlich etwas gefällt oder nicht gefällt, sondern, und das ist leider unleugbar, daß ich zumindest befürchte, hier in der Sowjetunion wird dieses wertvolle Manuskript im allgemeinen für zu kühn, zu frei und in gewissem Sinne vielleicht für unzulässig gehalten werden“ (Sinkó, Roman eines Romans, S. 92). Das Ende der Persönlichkeit, das Ende jeder Meinung und Haltung (die in der Aussage des Professors im Wort „wertvoll“ zumindest noch durchschimmert) dringt in Ervin Sinkós Ohren, doch der Gedanke möchte im Kopf nicht ankern. Dem steten Wechsel von Anerkennung und Ablehnung, mit dem die Mitarbeiter des Staatsverlages auf seinen Text reagieren, vermag er in aller Unschuld allein den Satz „Das verstand ich nicht.“ (ebd., S. 96) entgegenzusetzen. Er musste erst noch begreifen, dass es in der Konturlosigkeit nichts zu verstehen gibt, die unsichtbaren Grenzen sind in ständiger Bewegung; jeder Versuch, die Verhältnisse logisch zu erfassen, würde im Wahnsinn enden.
Die gedankliche Barriere, die verhinderte, dass sich diese Einsicht festsetzen konnte, hatte ihren Ursprung im Blick von außen auf die Sowjetunion. Sinkó lebte, bevor er nach Russland kam, mehrere Jahre in Frankreich. Während dieser Zeit verwandelte sich Russland für ihn – wie für so viele westeuropäische Intellektuelle – in einen Sehnsuchtsort. Da sowohl von der Gewalt in der Frühphase der bolschewistischen Herrschaft als auch vom stalinistischen Terror wenig nach außen drang, konnte eine Unterscheidung zwischen dem beklagenswerten Zustand Westeuropas, das vielerorts in Richtung Faschismus und Antisemitismus abdriftete, und dem vermeintlichen Paradies im Osten, wo an der Gleichheit aller gearbeitet wurde, vorgenommen werden. In der Perspektive von außen erschien die konturlose Welt der Sowjetunion aufgrund des Kontrasts zu den eigenen Verhältnissen und dem unvollständigen Bild, welches man von dieser Welt hatte, als ein unbedingt erstrebenswerter, klar konturierter Ort. Wer sich in Westeuropa als Kommunist verstand, konnte sich auflehnen, er konnte gegen Widerstände angehen, wobei den meisten nicht bewusst war, dass ihre Selbstbezeichnung bereits zu diesem Zeitpunkt ihre Unschuld verloren hatte.
Dem westeuropäischen Kommunisten war alles fremd, was ihn in seiner Heimat umgab. Das Eigene war das, was in seiner Wahlheimat geschah, die er nur vom Hörensagen kannte und von der er letztlich nichts Gesichertes wusste. Bei manch einem wucherte die Sehnsucht nach der Sowjetunion und all den Vorstellungen, mit denen man diesen Ort gedanklich anfüllte, zu einem religionsähnlichen Glauben heran. Die Erlösung vom Leid der Welt bot nicht mehr das Christentum, das neue Heilsversprechen war ein politisches und wurzelte in Russland. Das Bekenntnis eines Gläubigen klang folgendermaßen: „[D]ie Sowjetunion ist heute die einzige Hoffnung der Menschheit; der politische Kampf der Sowjetunion kommt einem Kampf für den Humanismus gleich. (…) Die einzige Macht, die niemals auch nur den Versuch machen kann, mit Hitler zu paktieren, ist die Sowjetunion. Die Sowjetunion (…) ist für mich in der Gegenwart der einzige noyau (Kern), in dem die menschliche Zukunft lebt“ (ebd., S. 21). Diese Worte stammen von Mihály Károlyi, der Ministerpräsident Ungarns vor der Revolution von 1919 war. Er ging schließlich ins Exil nach Frankreich, wo er in den 30er Jahren auf Ervin Sinkó traf. Károlyi legte großen Wert auf die weiße Weste der Sowjetunion in Fragen der Moral. Aus dieser leitete er ihre Vorreiterrolle für die gesamte Menschheit ab. Solche Preisungen konnten allein von jemandem stammen, dessen Wissen über die Verhältnisse im ‚gelobten Land‘ allein angelesen waren. Der Kern der menschlichen Zukunft, den die Bolschewisten in die russische Erde pflanzten, war ein durch und durch fauliger und nur wenige Jahre nach Károlyis Lobpreis paktierte Stalin mit Hitler, um Polen in zwei Teile zu zerreißen und sich das Baltikum einzuverleiben. Der Glaube an die Sowjetunion ist verständlich und nachvollziehbar, allein er sieht sich mit dem Problem eines jeden Glaubens konfrontiert: Die Realität droht ausgeblendet zu werden, sodass es zu vorschnellen Urteilen kommt.
Steht bei Károlyi in Bezug auf seinen Glauben noch das Moment der Erlösung im Fokus, so demonstriert ein anderer Intellektueller, Romain Rolland, mit dem Sinkó ebenfalls in Kontakt stand, die Unerschütterlichkeit, die die Anhänger der neuen Konfession auszeichnete. Nachdem Rolland Sinkó maßgeblich dabei geholfen hatte, sein Manuskript nach Russland zu vermitteln, schrieb er kurz vor dessen Abreise in einem Brief: „Sie fahren in das Land des großen Aufbaus. Helfen Sie mit bei diesem Aufbau. Halten Sie sich bewußt fern von denen, die nur diskutieren. Hüten Sie sich vor den politischen Grüppchen und ihren sterilen Debatten. All das ist im Augenblick nutzlos und gefährlich. Was allein zählt, ist die positive Seite, die Aufbauarbeit“ (ebd., S. 48). Für Rolland war es unzweifelhaft, dass sich die Sowjetunion auf dem richtigen Weg befand. Sein Glaube war derart unerschütterlich, dass jede Debatte obsolet wurde. Ganz dem Programm des sozialistischen Aufbaus verpflichtet, zählte nur mehr die Tat, an der es sich zu beteiligen galt. Die Notwendigkeit, das Denken einzustellen und sich auf diese Weise des eigenen Urteilsvermögens zu berauben, findet sich in den Schriften vieler anderer westeuropäischer Intellektueller. Sie leiteten dies aus dem „Paradigma des ‚Seins-im-Werden‘“ (Ryklin, Michail, Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution, Frankfurt am Main 2008, S. 57) ab, wonach sich jedes Urteil über die Sowjetunion ohnehin erübrigen würde, da sich die Verhältnisse so schnell ändern würden, dass die eigene Meinung überholt wäre, bevor man sie zum Ausdruck gebracht hätte. Die Grenzen sind nicht erkennbar, weil sie in einem ständigen Wandel begriffen sind.
Da aus diesem Grund jede Bewertung unnütz wird, bleibt allein noch das Gefühl, auf das es sich fortan – wie in allen anderen Religionen – zu verlassen gilt. Doch das Gefühl nimmt einem die Nüchternheit, es involviert einen in eine Gemengelage, von der man tatsächlich überhaupt kein Teil ist, und vor allem zementiert es das Urteil, lange bevor eine Prüfung durch die eigenen Sinne stattfindet. Besonders anfällig sind diejenigen, die an eine letzte Wahrheit glauben möchten, die ob der Relativität allen Wissens ermüdet sind und sich ein Ende des Abwägens von Argumenten herbeisehnen. Vor diesem Hintergrund werden das Aufbrechen des Glaubens und die Wiederermächtigung der Urteilskraft zu einer Herkulesaufgabe. Einfacher ist es, auch nach dem Besuch in der Sowjetunion am Glauben festzuhalten, das Geschehene schönzufärben und sich in Apologien zu flüchten, wonach der Terror den außergewöhnlichen Umständen geschuldet und für das Überleben der Revolution unumgänglich sei. Diejenigen, die ernüchtert heimkehrten – wie etwa Joseph Roth, André Gide oder auch Ervin Sinkó –, hatten ohnehin einen schweren Stand. Sie wurden von all jenen, die in ihrem Glauben noch eine feste Burg sahen, als Abgefallene und Frevler verunglimpft. Sie mochten die klare Kontur, die sie zwischen West und Ost imaginierten, nicht aufgeben. Die Alternative zum Terror vor der eigenen Haustür konnte nicht der Terror im Paradies sein.
Bei Ervin Sinkó war der Glaube an die Sowjetunion nicht derart stark, dass er sich vor Antritt seiner Reise vollends verblendet auf dem Weg in das ‚gelobte Land‘ wähnte. So notierte er etwa in seinem Tagebuch, dass nicht die Revolution und ihre Mittel, sondern einzig ihre Ziele herrlich seien. Dass diese Vorsicht, die Šinko auf seine Erlebnisse während der Ungarischen Revolution zurückführte, nicht aus Worthülsen bestand, wird auf der Schiffsreise nach Leningrad ersichtlich. Er registriert mit Befremden, dass seine Mitreisenden in allem eine sowjetische Errungenschaft sehen, ihr Verhalten mehr „Dressur als Kultur“ (Šinko, Roman eines Romans, S. 62) ist, sie offensichtlich ihr Denken eingestellt haben und sich Geschmacksurteile nicht mehr erlauben. Als letzte Instanz, über die nur in größter Ernsthaftigkeit gesprochen werden darf und von der sich alle Glaubensinhalte ableiten, fungiert die Partei. Auch vermag Sinkó die Inszenierungen zu erkennen, über die etwa der Grenzübertritt in die Sowjetunion von einer gewöhnlichen Einreise zu einem Betreten einer neuen Welt überhöht wird. Das Schiff, auf dem er gemeinsam mit seiner Frau vom französischen Rouen nach Leningrad reiste, wird kurz vor dem Anlegen in Russland neu gestrichen, sauber gemacht und aufgrund einer Order, die über Funk das Schiff erreicht, mit einem neuen Namen versehen: Aus der „Witebsk“, die schlicht den Bezug zu einer Stadt im heutigen Weißrussland herstellte, wird die „Tschapajew“. Wassili Iwanowitsch Tschapajew war ein Kommandeur in der Roten Armee, der im Bürgerkrieg fiel. Das Zelebrieren des Grenzübertritts in das ‚heilige Land‘ konnte allerdings noch weitaus skurrilere Formen annehmen als es bei Sinkós Schiffsfahrt der Fall war. So ist behauptet worden, die Luft rieche im Sozialismus vollkommen anders als im stickigen Kapitalismus, bei anderen stellte sich unmittelbar nach der Einreise ein wohliges Heimatgefühl ein, während sich manch einer gar die Schuhe an der Grenze auszog, um die heilige Erde, auf der er von nun an wandeln durfte, nicht zu beschmutzen.
Die Menschen, die aus der Fremde kamen, wollten (und sollten) spüren, dass sie sich von nun an in einer neuen Welt befanden, in der alles anders – und das hieß vor allem: alles besser – war. Doch wer sich wachen Auges durch das Land bewegte, der erkannte, dass überall Sprech- und Denkverbote lauerten und der glorreiche Umbruch mit Gewalt und Unrecht erzwungen wurde. Vereinzelt brauchte es noch nicht einmal das wache Auge, sondern schlicht einen Moment der Unbedachtheit, in dem einem die Umwelt, die alles bestimmte, nicht hundertprozentig bewusst war, um die Verbote zu spüren. Sinkó traf sich im Jahr 1936 öfter mit deutschen Exilanten im Moskauer Hotel Lux. Beim Überblicken des Bücherregals im Zimmer eines Genossen griff er zu Nietzsches „Morgenröte“, schlug zufällig eine Seite auf, las den Aphorismus zunächst leise für sich und dann schließlich – laut eigenem Bekunden ohne Absicht oder Kalkül – laut vor: „Es giebt eine Art schwärmerischer, bis zum Äussersten gehender Hingebung an eine Person oder Partei, die verräth, dass wir im Geheimen uns ihr überlegen fühlen und darüber mit uns grollen. Wir blenden uns gleichsam freiwillig zur Strafe dafür, dass unser Auge zu viel gesehen hat.“
Sinkós Worte durchschnitten die Gespräche der Anwesenden und die Reaktion, die er erntete, war nichts als betretenes Schweigen. In seiner Abgeschlossenheit brach in diesem Moment das Individuelle, in Gestalt einer Meinung, hervor. Seine Konturen wurden sichtbar, insbesondere vor dem Hintergrund der schweigenden Masse, deren Glieder wohl vereinzelt gerne zugestimmt oder gar zu einer Diskussion angehoben hätten, sich dies allerdings aus Furcht vor den Konsequenzen nicht trauten. Auf Geheiß der Partei war Nietzsche unlängst auf den Scheiterhaufen der Geschichte verbannt worden und die Ungeheuerlichkeit bestand nicht allein darin, dass Sinkó sich erdreistete dies zu ignorieren. Denn niemand der Anwesenden wird umhin gekommen sein, das Zitat auf die Zustände, die sie umgaben, zu beziehen. Der Gedanke, dass sich das Volk oder auch nur Teile von ihm der Partei oder gar Stalin überlegen fühlten, lag Mitte der 30er Jahre bereits so weit jenseits der Aussprechbarkeit, dass er ausgesprochen nicht einmal mehr auf Widerrede stieß. Zugleich jedoch demonstriert das Schweigen, dass der Raum nicht mit Überzeugten gefüllt war. Sie wussten um die Einschränkungen und das Unrecht; ihr Glaube war längst von Skepsis durchsetzt. Denn wären sie tatsächlich vollends überzeugt gewesen, so wäre die sechzehnbändige Ausgabe der Werke Nietzsches doch längst aus dem eigenen Bücherregal verschwunden und zwar genau in dem Moment, in dem die Partei den Autor verdammt hatte. Doch vernichten wollte man Nietzsche nicht, man beschränkte sich darauf, der öffentlichen Verurteilung Folge zu leisten und ihn fortan aus allen Gesprächen zu verbannen – man löste die Konturen, nicht jedoch die Grenzen auf. Allein über diese Maßnahme konnte Nietzsche im Bücherregal überleben und jener Genosse, der das besagte Hotelzimmer bewohnte, konnte sich zumindest noch einsam dem Verbotenen hingeben. Folglich mussten sich die Intellektuellen in der Sowjetunion öffentlich selber blenden, um im Privaten mehr sehen zu können.
Ob und in welchem Ausmaß die Selbstverleugnung zu Groll führte, wird von Fall zu Fall unterschiedlich gewesen sein. Entscheidender war ohnehin längst, welche Schlüsse aus den öffentlichen Denkverboten gezogen wurden, denn der Raum des Privaten schmolz immer weiter zusammen. Im Idealfall führte einen der Weg zum nächsten Schiff oder Zug, im schlechtesten Fall blieb man im Hotel Lux. Und irgendwann kam die Zeit, in der es ausreichte, Nietzsche auch nur im Bücherregal stehen zu haben. Vielleicht hatte man nicht registriert, wann sich die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Leben vollends aufgelöst hatte, vielleicht hatte man es auch ignoriert und das Risiko in Kauf genommen. Dies spielte nun keine Rolle mehr, das Leben war dahin – zerstört von einem Totalitarismus, der sich seinen Namen wahrlich verdient hatte und zu dessen Wesenskern die gezielt herbeigeführte Ungewissheit gehörte, wo die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem verlaufen. Über die Beschneidung bestimmter Freiheiten muss in einer solchen, konturlosen Welt überhaupt nicht mehr gesprochen werden, da ihnen jeder Raum für die eigene Existenz bereits abhandengekommen ist: Was nicht da ist, kann nicht eingeschränkt werden. Der revolutionäre Ruf nach „Freiheit“ findet hier eine Berechtigung, die über die Forderung, eine „Befreiung“ von bestimmten Zuständen und Personen herbeizuführen sowie die „Freiheit“ zu bestimmten Äußerungen und Handlungen zu haben, hinausgeht; er beinhaltet den Anspruch, einer wesentlichen Existenzbedingung der Freiheit – der Sichtbarkeit bestehender Grenzen (seien sie rechtlicher, moralischer, politischer oder individueller Natur) – wieder Geltung zu verschaffen.