Die Schussfahrt geht weiter – allmonatlich gelingt der SPD das Kunststück ihre historisch niedrigen Umfragewerte noch weiter zu unterbieten. Es regiert die Ratlosigkeit rund ums Willy-Brandt-Haus; und tatsächlich ist es ein Rätsel, warum in einer Zeit, da einige Wenige den Kuchen verteilen, während sich der große Rest um die Krümel streiten darf, da die Wirtschaft sich der Unmoral noch hingebungsvoller verschrieben hat als vor der Krise von 2008, da der Steuerbetrug gleich millionenfach ans Tageslicht kommt – warum in einer solchen Zeit, eine Partei, der das Thema Gerechtigkeit ins Erbgut eingeschrieben ist, sich nicht stärker profilieren kann.
Einige Erklärungsmuster sind zwar schnell bei der Hand, greifen offensichtlich jedoch zu kurz: So heißt es etwa, Parteien wie die Grünen, in jüngster Zeit auch die AfD, machten der SPD Wähler abspenstig. Auch die CDU unter Angela Merkel trete seit einer Dekade nicht mehr als Planierraupe des Sozialstaates auf, eigne sich stattdessen sozialdemokratische Positionen an. Und dann ist da natürlich noch die Agenda 2010 – die längst zum Schimpfwort verkommene Abkehr vom kleinen Mann, beschlossen von einem Kanzler mit Oligarchenzügen. All dies ist korrekt, erklärt jedoch nicht das Ausmaß des Dilemmas. So bemüht sich denn auch Peer Steinbrück eine weitere Ursache zu benennen, mit der er dem Kern des Problems schon recht nahekommt: Laut des ehemaligen Finanzministers seien die Kräfte, gegen die sozialdemokratische Politik anzugehen habe, schlicht zu mächtig; Resignation trieft aus jedem seiner Worte: „Die Gegenpropaganda hat wunderbar funktioniert: Die SPD mit dem Steinbrück will euch euer Häuschen wegnehmen. Der will sogar noch eure Trockenhaube verstaatlichen! (…) Dass wir einen Freibetrag [bei der anvisierten Vermögenssteuer] von einer Million pro Single und zwei Millionen bei Verheirateten vorgesehen hatten – das wurde gar nicht weiter kommuniziert. Es ist leider so: Die Definitionshoheit über das Thema Vermögensverwaltung liegt bei denen, die das Thema konsequent kleinreden“ (Gloger, Katja/Vornbäumen, Axel, „Anonyme Briefkastenfirmen sind eine Riesenschweinerei“ – Gespräch mit Peer Steinbrück, in: stern 16 (2016), S. 114). Auch diese Argumentation ist richtig; doch auch Steinbrück schielt am grundsätzlichen Übel noch leicht vorbei: Die Ideen der Sozialdemokraten – wie auch jene der „Gegenpropaganda“ – brauchen ein Publikum, einen Resonanzboden, auf dem sie widerhallen können. Dieser ist in den vergangenen drei Jahrzehnten sukzessive kleiner geworden. Was gerne als gesellschaftliche Mitte bezeichnet wurde (und wird) – die Bevölkerungsmehrheit bestehend aus Industriearbeitern, kleinen Selbstständigen und solide abgesicherten Dienstleistungsberufen – droht immer weiter zu einer Rumpftruppe zusammenzuschrumpfen; der SDP kommen schlicht ihre Ansprechpartner abhanden.
Ein resigniertes Prekariat
Gemäß einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2010 ist der Anteil der Menschen in Deutschland, die ein mittleres Einkommen (durchschnittliches Monatsnettoeinkommen von ca. 1300 Euro im Jahr 2009) beziehen, insbesondere in den Nullerjahren erheblich gesunken; die Mitte schrumpfte auf Kosten der niedrigen und hohen Einkommen – die Polarisierung der Einkommensgruppen hat zugenommen. Der statistische Mittelstandsbauch droht sich Stück für Stück in eine Sanduhr zu verwandeln. Doch nicht nur gibt es immer mehr Arme und Reiche im Land, auch ist die reichlich ausgelaugte Phrase korrekt, wonach die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. In der Gruppe mit einem hohen Einkommen galt dies interessanterweise auch für das Krisenjahr 2009. Der DIW-Bericht resümiert noch weitaus allgemeiner: „Den Jahren mit schwacher oder sogar rückläufiger Beschäftigungsentwicklung 1993, 1994 und 2003 bis 2005 folgten 1995 und 2006 jeweils ein Spitzenwert der Einkommenspolarisierung. In der Phase starken Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums von 1998 bis 2000 ging die Einkommenspolarisierung zwar nicht wieder wesentlich zurück, wohl aber stabilisierte sie sich auf dem höheren Niveau“ (Goebel, Jan et. al., Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, Wochenbericht des DIW Berlin, 24 (2010), S. 6). Kurzum, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, steigt das Einkommen der Reichen dennoch weiter an. Es ist bemerkenswert, wie viel Wahrheit in den Anklagen von vorgestern steckt, die von den Vermögenden als Krisengewinnler erzählen, die wie Fettaugen noch auf der trübsten Brühe stets oben schwimmen. Noch bemerkenswerter mutet der Umstand an, dass diese Wahrheit mittlerweile sogar in den Gelehrtenstübchen der Wirtschaftswissenschaften angekommen ist.
Eine aktuelle Studie des DIW aus dem Jahr 2015 konstatiert, dass sich die Einkommenspolarisierung in Deutschland unvermindert auf einem hohen Niveau befindet. Zugleich wurde festgestellt, dass das Armutsrisiko (Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens der Gesamtbevölkerung) in Deutschland seit dem Jahr 2000 erheblich gestiegen ist. Betroffen sind hiervon nahezu alle Altersgruppen, besonders düster allerdings sieht die Situation bei den jungen Erwachsenen aus. So waren im Jahr 2012 17 Prozent der 18- bis 25-Jährigen von Armut betroffen (2000: 15,4 Prozent), obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgingen. In der Gruppe von 25 bis 35 Jahren lag der Anteil immer noch bei 13,2 Prozent (2000: 9,6 Prozent). Unter denjenigen, die in diesem Alter keine (bezahlte) Arbeit finden, sind annähernd 50 Prozent von Armut betroffen. Obwohl das Armutsrisiko im Alter abnimmt, bestätigt sich auch bei den Erwerbstätigen zwischen 35 und 65 der Trend, dass (im Vergleich zum Jahr 2000) immer mehr Menschen vom Ertrag ihrer Arbeit nicht leben können. Vor diesem Hintergrund bekommen die Beschäftigungsrekorde, die regelmäßig von Politik und Wirtschaft vermeldet werden, einen äußerst widerlichen Beigeschmack. Die Phrase, dass Arbeit und Fleiß sich lohnen würden, mag früher einmal Geltung gehabt haben; für viele Menschen ist sie mittlerweile hohl geworden. Sie sind Opfer einer von der Politik assistierten Ausbeutung geworden, die das Leistungsprinzip ad absurdum führt. Und ausgerechnet in dem Jahrzehnt, da diese Entwicklung auf die Spitze getrieben wurde, war die SPD nahezu durchgängig in der Regierungsverantwortung. Die Partei hat ihre Stammklientel auf dem Altar des Profits geopfert und sich damit der eigenen Existenzgrundlage entledigt. An die Stelle einer selbstbewussten Arbeiterschaft ist ein Heer ernüchterter und entpolitisierter Arbeitsdrohnen getreten. Die Wirtschaft befindet sich in dieser Gemengelage in der Komfortzone schlechthin: Es werden Kosten eingespart, während der Staat die großen sozialen Verwerfungen (noch) verhindert. Zugleich werden die Angestellten über schlechte Bezahlung, befristete Beschäftigung, Minijobs, Leih- und Kurzarbeit in einer dauerhaften Anspannungssituation gehalten, die nahezu jede grundsätzliche Reflektion ihrer Lage verhindert: Die chronischen Existenz- und Zukunftssorgen ersticken jedes Aufbegehren im Keim.
Der Soziologe Heinz Bude macht in der politischen Ermüdung dieses neuen Prekariats die gewichtigste Differenz zum Industrieproletariat der Vergangenheit aus. Den Beschäftigten in Sozialberufen, den Dienstleistern und Leiharbeitern geht jedes emanzipatorische Bewusstsein ab; der Gedanke, die Herrschaftsverhältnisse irgendwann einmal kippen zu können, sie mindestens ein wenig zum Tanzen zu bringen, ist ähnlich fern wie die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben. Diese Menschen haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden, ein Dasein in schlecht bezahlten, stets gefährdeten Arbeitsverhältnissen am Rande der Gesellschaft fristen zu müssen. Bude fasst deren Lage folgendermaßen zusammen: „Das sind Leute, die hart arbeiten, mit wenig Aufstiegsmöglichkeiten und – und das ist jetzt das Interessante – im Grunde mit ihrer Situation abgeschlossen haben. Sie sagen: ‚So ist es halt!‘ Und da kommt jetzt das Thema: Nicht Angst, dass alles schlechter wird, sondern im Grunde die Sicherheit, dass wir (…) auf einen Abgrund zulaufen [bestimmt das Denken dieser Leute]“ (Precht, Unsere ungerechte Gesellschaft. Richard David Precht im Gespräch mit Heinz Bude, 03.04.2016). Mit diesen Menschen ist kein Staat zu machen, nicht einmal Reformen sind mit ihnen realisierbar. Und dass sie auf jenen Abgrund nicht zulaufen, sondern ihm systematisch entgegengestoßen werden, erkennen sie vielleicht erst, wenn sie hinuntergestürzt sind (vielleicht erkennen sie es auch gar nicht). Denn eben jene Menschen am oberen Ende der Einkommensschere haben überhaupt kein Interesse daran, an dieser Entwicklung irgendetwas zu ändern, profitieren sie doch (wie gezeigt) umso mehr, je weiter die Polarisierung zwischen Arm und Reich voranschreitet.
Auf die Gefahren, die auf eine Gesellschaft ohne stabilen Mittelbau zukommen können, hat in weiser Voraussicht bereits der DIW-Bericht aus dem Jahr 2010 hingewiesen. Die Autoren merkten an, dass der eingeschlagene Weg „durchaus mit der Tendenz einhergehen [könnte], eine andere Bevölkerungsgruppe (…) verantwortlich zu machen und so zur Ausbreitung von diskriminierenden Einstellungen (wie Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass)“ (Goebel et. al., Polarisierung der Einkommen, S. 8) führen könnte. Dass sich in den folgenden Jahren Organisationen wie Pegida und Parteien wie die AfD formierten, bei denen die verängstigte Mittelschicht bis heute in der ersten Reihe mitmarschiert und gegen Ausländer grölt, dürfte also zumindest im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung niemanden überrascht haben. Derweil blicken die Vermögenden gelassen auf die von ihnen forcierte Verelendung, zeigt doch das Beispiel der Vereinigten Staaten, dass eine polarisierte Gesellschaft nicht zwangsläufig untergehen muss. Wo Arm und Reich ohne Pufferzone direkt aufeinanderprallen, müssen die Abgehängten lediglich das Mantra verinnerlicht haben, wonach das Elend tatsächlich der größte Anreiz für den sozialen Aufstieg sei. Und überhaupt, jeder sei doch seines eigenen Glückes Schmied und selbiges werde über den Tüchtigen am reichhaltigsten ausgeschüttet. Dieses Best-of der kapitalistischen Ammenmärchen wird vorgebracht aus gut bewachten Gated Communities – zu nahe möchte man den Empfängern der eigenen Botschaften, den Schmuddelkindern aus den Ghettos, schließlich nicht kommen. Dass die Masse mit Lügen bei der Stange gehalten wird, zeigt die Empirie: Die Vereinigten Staaten gehören im Vergleich mit anderen westlichen Nationen zu den Ländern mit der geringsten sozialen Mobilität. Die obersten Sprossen der gesellschaftlichen Leiter sind zwischen Los Angeles und New York eben nicht mit ehemaligen Multijobbern und anderen Überlebenskünstlern bevölkert. Was bei den Unterprivilegierten noch an etwaigem Zorn über die Unausweichlichkeit ihrer Lebenssituation vorhanden sein mag, versuchen die Vermögenden mit Stipendien, Stiftungen und Spenden abzufedern. Natürlich ist dies noch weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, doch im Verkaufen der Ausnahme als Regel, im ausdauernden Lobpreis der wenigen Emporkömmlinge als Verkörperungen des American Dreams, sind die Amerikaner seit jeher unübertroffen.
Eine unsolidarische Elite
Während des kurzen Blicks nach Übersee ist bereits ein Schlaglicht auf das andere soziale Randgebiet geworfen worden, zu dem die deutsche Sozialdemokratie ebenfalls keinen Zugang mehr hat. Nicht nur am unteren Ende der Gesellschaft stoßen ihre Ideen zunehmend auf taube Ohren, auch in den luftigen Gefilden der Bessergestellten findet die SPD kein Gehör mehr. Beides ist Gift für das Uranliegen der Sozialdemokraten – die Umverteilung: Wenn die gesellschaftliche Mitte schmilzt, die Menschen immer ärmer werden, und wenn sich zugleich die Vermögenden zusehends aus der Solidargemeinschaft ausklinken, geht die Forderung nach einer auskömmlichen Existenz für jedermann ins Leere: Die Mittel sind zwar noch vorhanden, sie sind jedoch nicht mehr in den Händen derer, die für die Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Solidarität empfänglich sind. Mit Vorliebe und Ausdauer wird über die Verlorenen am unteren Ende der sozialen Hierarchie diskutiert – mal mit Verachtung und Häme, mal mit Mitleid und Helfer-Gestus; dass es am oberen Ende allerdings auch eine Gruppe von Menschen gibt, die sich längst aus dem Gemeinwesen verabschiedet hat – insbesondere dann, wenn es darum geht, zu geben und nicht zu nehmen –, bleibt größtenteils unberücksichtigt.
Die Liste der Symptome für diese Entwicklung ist lang: Dass etwa Steuerbetrug – oder mindestens das unmoralische Ausnutzen sämtlicher Gesetzeslücken – seit langem eine Art Hobby der Elite ist, für diese Einsicht brauchte es die jüngsten Panama-Leaks nicht. Überraschend ist lediglich das Ausmaß der moralischen Verwahrlosung: Mit den geschätzten Zahlen zum Steuerbetrug, die momentan durch die öffentliche Debatte geistern, ließen sich gleich mehrere Dutzend Sozialstaaten finanzieren. Trotz dieser Dimensionen scheut die Politik energische Eingriffe: Sowohl Gesetzesänderungen, die zu einem Eindämmen der Steuerflucht führen würden (Großunternehmen müssen Gewinne dort versteuern, wo sie erwirtschaftet werden; Transaktionen in Steueroasen müssen von den Banken gemeldet werden; die Beweislast bei der Einrichtung von Briefkastenfirmen muss umgekehrt werden), als auch solche, die für eine größere Umverteilung sorgen würden (z.B. höhere Besteuerung von Kapitalerträgen, niedrigere Besteuerung von Arbeit; Erbschafts- und Vermögenssteuer), werden von jener Gegenpropaganda torpediert, von der Peer Steinbrück eingangs sprach. Dass sich die Politik letztlich von den Vermögenden am Nasenring durch die Manege ziehen lässt, wird auch jenseits steuerlicher Belange deutlich: Der hemmungslose Schuldensozialismus während und nach der Finanzkrise, der fortgesetzte Ruin des griechischen Staates, die Unfähigkeit, zumindest die verheerendsten Auswüchse der wirtschaftlichen Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte zurückzuschrauben – all dies sind Symptome eines Vorführens der Politik durch die Wirtschaft.
Manch einer ist über dieses Stadium eines völlig außer Ruder gelaufenen Liberalismus, einer maximalen Distanzierung der Wirtschaft von der Politik, bereits hinaus. Großunternehmen wie Amazon, Google, Microsoft oder Facebook, die in ihren Kerngeschäften quasi eine Monopolstellung innehaben, schlagen längst den Bogen zurück zur politischen Gestaltung (Mark Zuckerberg etwa geht weltweit in den Regierungsstuben ein und aus, als seien es seine je unterschiedlich dekorierten Wohnzimmer). Dies allerdings nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen der eigenen Bilanz. Der Gemeinwille ist dem Profitinteresse gewichen, der Bürger dem Produzenten, Dienstleister und Konsumenten. Die Mahnung hinsichtlich eines möglichen Endszenarios mag im Ton dramatisch sein, übertrieben ist sie nicht: „Ein Kapitalisten-Kollektiv entsteht, zusammengesetzt aus den größten Räubern in Industrie und Verteilung, aus der hohen Zivil- und vor allem Militärbürokratie; alle anderen Menschen (…) [werden] Objekte einer Beherrschung, wie die Welt in gleich großem Umfang und gleich durchrationalisierter Strategie noch keine gesehen hat“ (Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1985, S. 1058).
Zu einer Geisel dieser Herrschaft ist längst auch der deutsche Sozialstaat geworden – er hat sich in ein Dilemma manövriert: Jahrzehntelang sahen es die Volksvertreter (über nahezu alle Parteigrenzen hinweg) als eine ihrer zentralen Aufgaben an, den Klassenantagonismus über die Umverteilung zu neutralisieren. Gestritten wurde vor allem über das Ausmaß staatlicher Eingriffe. Im Angesicht der oben skizzierten Machtverhältnisse muss jedoch über den Umfang von Reformen erst gar nicht gesprochen werden – es ist augenscheinlich schwierig genug, sie überhaupt auf den Weg zu bringen. Die Crux für den Staat besteht darin, dass er nur mehr zwischen zwei Übeln wählen kann: Entweder er geht auf Konfrontationskurs mit Wirtschaft und Geldadel, wodurch die Gefahr einer gesellschaftlichen Zerreißprobe entsteht, oder er versucht die gegenwärtige Schrumpfstufe des Sozialstaates (die in Deutschland noch vergleichsweise groß ist) zu erhalten, was ihm nicht gelingen wird. Die Sackgasse ist offensichtlich: Der Sozialstaat kann in seiner momentanen Gestalt ohne den Kapitalismus nicht existieren, steuert aufgrund dessen Entfesselung allerdings auf seine eigene Abschaffung zu.
Etablierung einer neuen Solidarität?
Gleichermaßen erstaunlich wie bedrohlich ist die Tatsache, dass die Menschen um die Gefährlichkeit der gesellschaftlichen Polarisierung (inklusive der Geiselhaft ihrer Volksvertreter) wissen, aber dennoch nicht willens sind, stärkeren Druck auf Politik und Wirtschaft auszuüben. Heinz Bude spricht von bis zu 90-prozentiger Zustimmung innerhalb der westeuropäischen Gesellschaften zu dem Satz, es müsse etwas gegen die wachsende Ungleichheit getan werden. Wenn es dann allerdings um die eklatanten Einkommensungerechtigkeiten geht, plädieren nur mehr 30 Prozent der Befragten für staatliche Interventionen. Es kommt hier das sogenannte Nimby-Phänomen (not in my backyard) zum Tragen: Die Menschen wollen Veränderungen, persönlich möchten sie allerdings keine Einschränkungen in Kauf nehmen – und dies auch dann nicht, wenn sie von der vermeintlichen Einschränkung zunächst einmal profitieren würden. Es scheint sich auch in Europa immer stärker die trügerische Hoffnung durchzusetzen, es mit Fleiß und ein wenig Glück noch auf die Sonnenseite der Gesellschaft schaffen zu können, wo der Staat nicht als Regulator, erst recht nicht als Almosenverteiler auftritt, sondern von einem selber gelenkt werden kann. Diese naiven Machtphantasien werden gezielt genährt und je besser sie gedeihen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie für die Masse der Menschen genau das bleiben: unerreichbare, realitätsferne Phantasien. Vor dem Hintergrund der von Bude genannten Zahlen offenbart sich folglich eine weitere Facette des Problemkomplexes, mit dem sich gegenwärtige sozialdemokratische Politik konfrontiert sieht: Nicht nur schmilzt ihre Stammklientel zusehends zusammen, wozu sich die politische Indifferenz eines neuen Prekariats sowie das asoziale Gebaren der Eliten gesellen, auch wollen diejenigen, die noch von der SPD angesprochen werden könnten, von ihren Ideen nichts wissen. Diese Menschen insistieren stattdessen lieber auf der Quadratur des Kreises: Der Sozialstaat soll ausgerechnet mit den Kräften erhalten werden, die derzeit im Begriff sind ihn zu zerstören.
Ähnlich paradox wie diese Forderung mutet der Lösungsvorschlag Heinz Budes an: Da – anders als in der Vergangenheit – kein Kollektiv mit einem emanzipatorischen Bewusstsein mehr existiert, sollen laut Bude neue Formen der Solidarität entwickelt werden, um Veränderungen herbeizuführen. Im Grundsatz ist dieser Vorschlag sicherlich richtig und gut, könnte doch die Abkehr von den starken Ichs die Erstarrung in einer weitestgehend passiven Rolle als tüchtiger Werktätiger aufbrechen, der Diskreditierung ganzer Berufsfelder, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unersetzlich sind, vom Kapitalismus gleichwohl in einem fort herabgewürdigt werden (soziale Berufe, Lehrtätigkeiten, Pflege), ein Ende setzen, ja vielleicht sogar der Entfremdung von der eigenen Tätigkeit zumindest entgegenwirken. Bei der Beschreibung des Kitts jedoch, mit dem diese neuen Gemeinschaften zusammengehalten werden sollen, bleibt Bude äußerst vage: Er spricht von „Wechselseitigkeit“ und vom „Bewusstsein der Abhängigkeit“. Die Antwort auf die Frage, wie diese Einsichten sich innerhalb einer Gesellschaft durchsetzen sollen, die vor allem auf Konkurrenz gegründet ist, bleibt der Soziologe schuldig. Sein Vorschlag ähnelt Gedanken, die Jürgen Habermas bereits vor einigen Jahrzehnten äußerte. In den 1980er Jahren, als die Erosion des Sozialstaates noch in den Kinderschuhen steckte, hatte dieser vorgeschlagen den beiden zentralen Herrschaftsinstrumenten, der administrativen Macht (aufgeblähte Bürokratie) und dem Geld, eine neue Solidarität entgegenzusetzen. Habermas verstand diese als „sozialintegrative Gewalt“ (Habermas, Jürgen, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Kleine politische Schriften, Bd. 5 (Die Neue Unübersichtlichkeit), Frankfurt am Main 1985, S. 158), die sich vor allem durch eine schulbuchmäßige Politik einstellen sollte. Innerhalb eines klar verständlichen und transparenten (!) demokratischen Prozesses sollte dem Bürger die Lust auf Teilhabe – sei es eine begleitende oder eine aktive – schmackhaft gemacht werden.
Es genügt ein Blick auf die Art und Weise, wie Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister die Verhandlungen um das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) begleitet, um zu erkennen, wie weit die Politik im Allgemeinen und die SPD im Besonderen gegenwärtig auch nur vom Aufkeimen dieser neuen Art von Solidarität entfernt sind. Für Gabriel scheint in diesem Fall der Gipfel der Transparenz tatsächlich mit der Einrichtung eines Lesezimmers erreicht zu sein, in dem nur Bundestagsabgeordnete und Mitglieder des Bundesrates Einsicht in die geheimen Dokumente haben – natürlich nicht in alle Papiere, wo kämen wir da denn hin, und stets unter Aufsicht eines Ministeriumsbeamten, der am Ende der maximal zwei Stunden Aufenthalt die Notizen kontrolliert, denn das Aufschreiben wörtlicher Passagen ist nicht gestattet; ach ja, und nachdem der Parlamentarier den Leseraum wieder verlassen hat, darf er selbstredend mit niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über seine neu gewonnenen Erkenntnisse wechseln. Während man diese Ungeheuerlichkeiten noch verdaut, sieht man den Wirtschaftsminister, erkennbar mit Stolz erfüllt, in dem acht Arbeitsplätze fassenden Kabuff stehen und weiß in diesem Moment ganz genau, warum die SPD in Zukunft weiter ins Bodenlose abstürzen wird: Der Partei geht es ganz offensichtlich nicht darum, eine neue Solidarität zu begründen, stattdessen zementiert sie das Misstrauen – die Schussfahrt wird weitergehen.