Wer von den 68ern den Marsch durch die Institutionen erfolgreich bestritten hat, der wurde vor allem mit einem belohnt: Deutungshoheit. Ob nun aktiv von ihr Gebrauch gemacht oder sie einem von außen aufgezwungen wird – einige wenige repräsentieren eine ganze Bewegung. Und das Bild, das sie dabei abgeben, ist mitunter so kläglich wie der Zustand der Gegenwart, den sie mitzuverantworten haben. Doch dass auch das Revolutiönchen von ’68 schlussendlich viele seiner eigenen Kinder gefressen hat, dass es heute nicht gerechter, nicht friedlicher, in vielerlei Hinsicht nicht einmal liberaler zugeht als vor einem halben Jahrhundert (dass zugleich aber auch Erfolge hinsichtlich einer dringend benötigten Frischluftzufuhr für die bundesrepublikanische Gesellschaft verzeichnet werden konnten), soll an dieser Stelle nicht das Thema sein. Vielmehr soll es um das erinnernde Hochhalten der Gewalt in konsensuell gewaltlos erwünschten Zeiten gehen. Dieser Kniff, das Schwelgen in der Militanz von gestern, während man sie zugleich als mittlerweile geläutertes Lämmchen verteufelt, ist eine gewaltige Bürde für die heutige Jugend. Auch sie hat ihre Proteste, etwa gegen die Finanzwirtschaft, doch das Militant-Unerbittliche der 60er und 70er Jahre fehlt.
So berichtet etwa der Journalist Hans Ulrich Jörges, damals ein junger Mann, von einem Professor, der auf einer Vollversammlung drangsaliert wurde. Auf dessen Einwand, dass die Studenten gerade dabei seien, das falsche Schwein zu schlachten, schleuderten diese ihm lapidar entgegen, dass es aber doch immerhin ein Schwein sei. Die Feinheiten sind an diesem Punkt längst vernachlässigt worden, sodass sich Jörges in seiner Rückschau nicht scheut, den Bogen von der Gewalt, die sich im gegenseitigem Niederbrüllen auf Sitzungen des SDS im Kleinen und im Terror der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni im Großen zeigte, zu der Gewalt der Elterngeneration zu spannen. So bleibt ihm als Fazit davon zu sprechen, dass die „Bewegung (…) auf fatale Weise deutsch [war]. In der unerbittlichen Eskalation auch auf blutige Weise deutsch“ (Jörges, Hans-Ulrich, Irrweg: Schluss mit den Mythen von 68, auf: Stern.de, 08.01.2008).
Doch der Einsicht einiger, dass durch die Gewalt ein Irrweg betreten wurde, zum Trotz, ist diese weiterhin einer der gewichtigsten Belege für die Einzigartigkeit der Bewegung. So antwortete etwa der – in diesem Zusammenhang wohl unumgängliche – ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer auf die Frage, ob er, angenommen er wäre heute „noch einmal“ zwanzig Jahre alt, mit den Occupy-Aktivisten gegen die Banken demonstrieren würde, dass ihm Occupy in seiner Jugend „wahrscheinlich zu moderat gewesen“ wäre (Hildebrandt, Tina/Wefing, Heinrich, „Vergesst diese EU“, in: Die ZEIT 46, 2011). Gefragt wird der mittlerweile alt gewordene Fischer, den der Konjunktiv „noch einmal“ verjüngt; die Antwort jedoch liefert der einstmals junge Fischer. Wenngleich er hierdurch Distanz anzeigt, ob Fischer tatsächlich aus seiner Vergangenheit gelernt hat, wird nicht deutlich.
Was er seinerzeit unter nicht moderatem Protest verstand, ist hinlänglich bekannt: Nachweislich hat er als Mitglied der militanten Frankfurter „Putzgruppe“ Steine auf Polizisten geworfen; ein Foto zeigt wie er – flankiert vom späteren Terroristen Hans-Joachim Klein – im Straßenkampf in schwerer Montur auf einen Beamten einprügelt und immer wieder werden Stimmen laut, Fischer habe im Kreis der Militanten den Gebrauch von Molotov-Cocktails mindestens geduldet. Bei einer solchen Aktion anlässlich des Todes Ulrike Meinhoffs im Jahr 1976 kam in Frankfurt ein Polizist nur knapp mit dem Leben davon. Sechzig Prozent seiner Haut verbrannten, während er in einem von den Linksextremen angezündeten Polizeiwagen saß. Im Rückblick sprach Fischer von der Verführung durch die Gewalt und wollte damit wohl ausdrücken, dass dies eine Art der Reaktion ist, die in der Konfrontation mit staatlicher Gewalt, insbesondere für junge Männer, naheliegend ist. Zunächst folgt man einem Impuls, der spontanen Reaktion, die jedoch mit der Zeit zum planvoll eingesetzten Mittel wird, sodass man irgendwann seine Wochenenden in den Wäldern des Taunus verbringt, um die eigenen Schlachtpläne im Straßenkampf zu perfektionieren. Letztlich ist dies die Verlängerung der ‚Räuber und Gendarm Spiele‘ aus der Kindheit, die man nun in die Realität verlagert und die durch die Aussicht, blaue Flecken und Platzwunden als Trophäen davonzutragen, noch verlockender werden.
Doch die Verführung ist nur ein Teil des Reizes, der von der Gewalt ausgeht. Ein anderer ist ihre Strahlkraft, die sie seinerzeit innerhalb vieler Gruppierungen besaß. Die ultimative Form der Opferbereitschaft, dass im Zweifelsfall auch der eigene Kopf für die hehren Ziele hingehalten wurde, brachte einem die Anerkennung der Mitstreiter ein. Und irgendwann auf dem langen Marsch durch die Institutionen holt einen die Gewalt von einst ein und während man sich ständig rechtfertigen muss, hallt innerlich vielleicht noch schwach das Gejohle der Kameraden nach, als man vom ‚Bullenklatschen‘ wieder heim in die WG kam und im Fernsehen bereits die eigenen Heldentaten für das gesamte Land zu sehen waren (vgl. Kurbjuweit, Dirk/Latsch, Gunther, „Ich hab gekämpft“, in: Der SPIEGEL 2, 2001, S. 29). Und nun soll all das, wofür man einst Schulterklopfen erntete, Teufelswerk sein? So reiht man dann in der Gegenwart Rechtfertigung an Rechtfertigung und versucht die eigene Rolle möglichst klein zu halten, wobei der selbstauferlegten Kontrolle und der Unterordnung unter den gesellschaftlichen Konsens von der Gewaltlosigkeit zum Trotz mitunter durchscheint, welchen Reiz die Erinnerungen an die Abenteuer der Vergangenheit noch haben. Zu diesen befremdlichen Momenten zählt auch die Aussage Joschka Fischers von den zu moderaten Protesten gegen die Finanzwirtschaft.
Hierbei liegt das Problematische der Äußerung in ihren Implikationen: Wird Fischers Vergangenheit berücksichtig, so bedeutet „zu moderat“, dass der Protest der Occupy-Bewegung schwach und weichlich ist, vollkommen ohne Wucht, Überzeugung und Opferbereitschaft. Ihm fehlt das Moment der Unerbittlichkeit, das Abwürgen aller Argumentationen im sturen Insistieren auf die eigene, unumstößliche Wahrheit. Kurzum, es fehlt an Gewalt. Dieser implizite, nur im Subtext angehauchte Vorwurf ist deshalb besonders verwerflich, weil niemand – einschließlich Fischer und die meisten seiner Weggefährten – heute mehr die Gewalt als ein Mittel eingesetzt sehen möchte. Ihr ist abgeschworen worden und aus genau diesem Grund taugt sie vortrefflich als Schmuckfeder, denn es steht (zum Glück) nicht zu befürchten, dass die Jugend sie einem vom eigenen Hut reißen wird.
So ist die Gewalt, unabhängig davon, ob sie im Rückblick nun verteufelt wird oder nicht, integraler Bestandteil der Revolutionsromantik. Auch Hans-Ulrich Jörges schwelgt in den Erinnerungen an die Vergangenheit, spricht von rauschhaften Erfahrungen und greift damit auf eben jene Rhetorik zurück, von der alle Mythen um ’68, denen er eigentlich ein Ende setzen möchte, ihren Ausgang nehmen. Mitunter klingen seine Beschreibungen verdächtig nach den ‚Räuber und Gendarm-Spielen‘ für Erwachsene, für die Fischer und Konsorten seinerzeit im Taunus probten: „Nächte voller Schlachtenlärm sind mir in Erinnerung, irrwitzige Jagdszenen der Polizei, stundenlange Hetze durch Gassen und Häuser. Am Ende stemmte ich auch Pflaster auf, warf Steine, zertrümmerte Scheiben im amerikanischen Generalkonsulat – und wurde von einem Polizisten mit gezogener Pistole verfolgt („Stehen bleiben oder ich schieße!“)“ (Jörges, Schluss mit den Mythen von 68). Kontinuierlich läuft die Heldengeschichte auf ihren Höhepunkt zu und der Polizist mit der gezogenen Waffe ist von zentraler Bedeutung, ermöglicht er Jörges doch, sich abzugrenzen von den „Möchtegernrevoluzzern, die sich heute in Heldenpose gefallen, damals aber [anders als der Pennäler Jörges] zu jung waren oder nicht an den Brennpunkten der Ereignisse“ (ebd.).
Problematisch an Jörges Erzählung ist nicht die Tatsache, dass er die Ereignisse beschreibt; problematisch ist erst recht nicht, dass er sie im Nachhinein verurteilt; problematisch ist allein der Ton, der so gar nicht zu der im Titel des Artikels hinausposaunten Botschaft („Irrweg: Schluss mit den Mythen von 68!“) passen möchte. Laut Jörges braucht es zwingend den Ausweis, seinerzeit mittendrin anstatt nur am Rande der Proteste gewesen zu sein, um Aussagen über die Vergangenheit machen zu dürfen. Wer die 60er und 70er Jahre friedlich bei den Jusos verbrachte, musste sich seinerzeit mangelnde Überzeugung vorwerfen lassen, heute – von denselben Leuten – Geschichtsklitterung und Schönfärberei. Auf diese Weise legitimiert die Gewalt von einst die Deutungshoheit in der Gegenwart. Sie wirkt fort, greift ein in aktuelle Diskussionen und berührt so auch die heutige Jugend; denn es macht den Eindruck, als sähen Alt-68er wie Fischer und Jörges in der Gewaltlosigkeit gegenwärtiger Proteste wie etwa der Occupy-Bewegung die massenhafte Auferstehung der schwächlichen „Möchtegernrevoluzzer“, für die sie damals wie heute nichts als ein müdes Lächeln, das zwischen Verhöhnung und Verachtung changiert, übrig haben.
Wie ist nun umzugehen mit diesem vergifteten Erbe? Mit nostalgischen ‚Veteranen‘ des Protests, von denen nur die wenigsten bereit sind, gegenwärtiges Aufbegehren zu unterstützen? Die alt, satt und im schlechtesten Sinne konservativ geworden sind – nicht aus Überzeugung, sondern aus Verbitterung über ihr eigenes Scheitern? Wie ist umzugehen mit dem Schwelgen in einer gewalttätigen Vergangenheit, mit der zugleich nach außen wortreich gebrochen wird? Welche Position ist im Allgemeinen zur Gewalt einzunehmen – gerade vor dem Hintergrund, dass systemischer Protest in der Gegenwart so wenig Erfolg hat wie vor fünfzig Jahren? Hier braucht man nicht wieder deutsch zu werden, wie es den 68ern vor dem Hintergrund des Jahrtausendverbrechens ihrer Eltern so einfach fiel. Der Schluss war seinerzeit ziemlich simpel: Mit welcher Sprache, wenn nicht mit der der Gewalt, lässt sich der Alt-Nazi, der seinen Faschismus für den Kapitalismus eingetauscht hat, aus der bundesrepublikanischen Gemütlichkeit scheuchen?
Der Fehler eines solchen gedanklichen Kurzschlusses sollte nicht wiederholt werden. Vielmehr sollten die Alten, die nur mehr verdrießlich sind ob einer Welt, die noch ungleicher und ungerechter ist als in ihrer Jugend, als auch die, die sich den Mächten, gegen die sie einst antraten, gebeugt haben, beim Sortieren ihrer Erinnerungen nicht gestört werden; bei dieser Aufgabe sind sie gut aufgehoben, können sich erinnernd in den wilden Abenteuern ihrer Militanz von einst suhlen. Was gilt schon das Urteil eines Joschka Fischers, der so feist und verlogen neben sein besseres Selbst der Vergangenheit (das es jenseits der Gewalt wohl mal gegeben haben muss) getreten ist, dass es jedem Firmenboss der 60er und 70er Jahre die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte? Dort hat die schlimmsten Auswüchse unmittelbarer Gewalt noch die gute Kinderstube verhindert, aber die hat Fischer – siehe oben – ja offensichtlich nie genossen. So ist es nur konsequent, die eigene Rückgratlosigkeit auch im Alter möglichst ausdauernd zu demonstrieren, etwa indem man Lobbyarbeit für Energiekonzerne betreibt oder sich ausgerechnet von jenen Banken für Vorträge entlohnen lässt, die das Desaster von 2008 zu verantworten haben. Jemand wie Fischer taugt hervorragend als schlechtes Vorbild; seine Biographie zeigt eindrucksvoll, dass der Marsch durch die Institutionen weit mehr Einfluss auf den Marschierenden als auf die Institutionen hat. Der ehemalige Außenminister steht beispielhaft für den von den 68ern erbrachten Beweis, dass der Kapitalismus nicht nur ein autoritär-zerfurchtes, sondern auch ein demokratisch-junges Gesicht tragen kann, ebenso wie für jenen, dass Gewalt zu seiner Überwindung vollkommen untauglich ist.
Sicherlich war seinerzeit vor allem staatliche Gewalt auslösend für die Eskalation – Polizisten, die bei den Schah-Protesten besinnungslos auf friedliche Demonstranten einschlugen, die Erschießung Benno Ohnesorgs, bemäntelt von Politik und Polizei, V-Männer des Verfassungsschutzes, wie Peter Urbach, die die Linksextremen mit Waffen und Sprengstoff versorgten (die Parallelen zur staatlichen Verstrickung in den rechten Terror der Gegenwart sind unübersehbar). Doch darauf mit Gegengewalt zu reagieren, die im ersten Moment sicherlich naheliegend erscheint, delegitimiert lediglich das eigene Anliegen. Wo ‚das System‘ sein schweinisches Gesicht zeigt, sollte nicht grunzend geantwortet werden. Dehumanisierung auf beiden Seiten holt das Menschliche bestimmt nicht zurück. Das haben in den 60er und 70er Jahren längst nicht alle begriffen (zu den prominentesten Ausnahmen zählt sicherlich Rudi Dutschke), Fischer hat es bis heute nicht begriffen. Hiervon zu lernen, bedeutet, radikal zu werden – gerade nicht in der Gewalt, sondern zunächst in Ablehnung und Abkehr gegenüber allem Falschen und Verlogenem, dem vorausgehend in der Analyse des Wirtschaftssystems und seiner Gewalt, schließlich in der Auslotung möglicher Gegenmaßnahmen. Geschieht dies, auch unter Inkaufnahme eigener Nachteile, vielleicht gar des Scheiterns in den Augen anderer, beweist man also aufrechten Gang nicht nur bei Demonstrationen, sondern in der gesamten Lebensführung, so braucht man weder heute militant noch in einigen Jahrzehnten zum geläuterten Lämmchen zu werden.