Langlebige Sätze waren schon immer selten; sie sind es gegenwärtig umso mehr, als sie unter der Masse von dahin geschleuderten Texten zu leiden haben. Nach Sätzen, die Jahrhunderte überdauern können, die ihre Verfasser lange überleben, sucht und fragt in Zeiten von minütlichen Wasserstandsmeldungen und sich gegenseitig übertreffenden Dramatisierungen kaum mehr jemand. Die Resultate des Denkens folgen der Taktung, mit der die Weltereignisse mittlerweile auf die Menschen eindringen – sie werden kurzlebig. Die langlebigen Sätze haben jedoch ihre Schutzparks in all den Bereichen, die sich dem Aktualitätswettbewerb nicht aussetzen wollen. Finden wird man sie vornehmlich in der Vergangenheit, unter anderem beim tschechischen Dichter und Journalisten Karel Havlíček Borovský: „Der Ursprung allen Übels in öffentlichen und bürgerlichen Angelegenheiten der Welt liegt meiner Meinung nach in der Tatsache, dass die Menschen entweder dieselben Dinge mit verschiedenen Namen oder verschiedene Dinge mit denselben Namen benennen.“ (Borovský, Karel Havlíček, Kommunismus, 1850.)
Vielleicht ist der Geltungsanspruch („allen Übels“) ein wenig hoch gegriffen, doch sehr vielen Übeln liegen gewiss die beiden von Borovský genannten Ver(w)irrungen zugrunde. Die falsche Benennung kann sich unbeabsichtigt einschleichen – sie kann folglich Verirrung sein; sie kann allerdings auch intentional eingesetzt werden, um Verwirrung zu stiften. In letztgenannter Erscheinungsform gehört sie zum grundlegenden Handwerkszeug des Politikers: Mit Sprache werden Wirklichkeiten erschaffen, um den Bürger wahlweise wohlwollend, zornig oder auch überheblich zu stimmen. Übersehen wird hierbei oftmals nicht nur, dass die auf diese Weise konstruierte Wirklichkeit wenig (bis gar nichts) mit den tatsächlichen Gegebenheiten zu tun hat, sondern auch, dass die Politiker die erzeugte Stimmung wiederum für ihre Ziele instrumentalisieren. Mit emotional aufgewühlten Bürgern im Hintergrund kann die eigene Agenda eine ungeahnte Wucht entfalten. Die Parolen nähren sich vom Durcheinander, vom sprachlich erzeugten Chaos.
Anhand von einigen Beispielen aus der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit soll dieses Chaos in den kommenden Wochen zumindest ein wenig gelichtet werden. Der Anfang wird von einem Wort bestritten, das gegenwärtig fröhlich zwischen Kinderzimmer und Krieg oszilliert: das Taschengeld.
Taschengeld erhalten gewöhnlich Kinder; sie sollen den verantwortungsbewussten Umgang mit Geld erlernen, ein Gespür für dessen Wert entwickeln. Aus diesem Grund geben die Eltern ein regelmäßiges Taschengeld; dies längst nicht in allen Familien: Wo Ebbe im Portemonnaie herrscht, fällt die Zuwendung gering oder gleich vollkommen aus. Taschengeld ist folglich ein Privileg für Kinder aus Familien, die finanziell gut über die Runden kommen; es ist Geld, das die Kinder streng genommen nicht benötigen, da die notwendigen Dinge ohnehin von den Eltern besorgt werden; somit markiert es auch ein Abhängigkeitsverhältnis: Bekommt das Kind kein Taschengeld, so kann es sich selbstständig keine Dinge kaufen; seine Funktion hat das Taschengeld in der Erziehung: Die Kinder sollen mit ihm experimentieren, um etwa den Wert von Waren einschätzen zu lernen oder die Vorzüge des geduldigen Sparens zu erleben.
Die meisten Flüchtlinge sind keine Kinder mehr; sie leben auch nicht in bunten Zimmern, sondern in kargen Notunterkünften, in Baumärkten, Lager- und Turnhallen; Geld benötigen sie nicht zum Experimentieren, sondern zum Überleben – ihr eigenes hat zumeist die Flucht aufgezehrt. Auch für schlichte Gemüter sollte ersichtlich sein, dass Flüchtlinge mit den eigentlichen Taschengeldempfängern nicht viel gemein haben. Um zu verstehen, warum die Bezeichnung dennoch – vor allem bei Politikern aus dem christlich-konservativen Lager – mit Vorliebe genutzt wird, muss der Blick in die Vergangenheit gerichtet werden.
Europa hat die koloniale Perspektive auf den Nahen Osten (als auch auf große Teile Afrikas) nie aufgegeben; die USA haben sich diese Sichtweise angeeignet und sie – zumindest was die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft – auf die Spitze getrieben. Man hat diese Länder als Verfügungsmasse behandelt; mit ihnen Geschäfte allein zum eigenen Vorteil und zu dem einer kleinen (häufig ferngesteuerten) Machtelite vor Ort gemacht; interveniert und destabilisiert, wie es einem beliebte; die Bevölkerungen ließ man im Stich – insbesondere die Gruppen, die sich nach der Art von Demokratie sehnten, die vom Westen so gerne propagiert wird; kaum einen Tyrannen gab es, dessen Rohstoffe ausgeschlagen, dessen Geheimdienste nicht in Verschleppung und Folter mit einbezogen wurden. Diese Diktatoren – sei es nun Baschar al-Assad in Syrien, Husni Mubarak in Ägypten oder Muammar al-Gaddafi in Libyen – haben ihre Bevölkerungen immer so behandelt, wie es der Autokratie bis ins Mark eingeschrieben ist – patriarchalisch, im Guten wie im Schlechten, als gönnerhafte Vaterfiguren wie auch als bevormundende und irrational strafende.
So sind die Menschen im Nahen Osten (und in vielen Regionen Afrikas) auch nach ihrer Unabhängigkeit von den europäischen Staaten weiterhin Kinder geblieben. Sie wurden lediglich weitergereicht an ‚Väter‘, die ihnen äußerlich ähnelten, die in ihrem Denken und Handeln allerdings mit den ehemaligen Kolonialherren verwandt waren. Taschengeld bezahlten Europa und die USA auch zu dieser Zeit – und bezahlen es bis heute; es heißt Entwicklungshilfe und wird von den Patriarchen eingesteckt. Sie kaufen damit europäische und amerikanische Waffen und Panzer, mit denen sie ihre ‚Kinderzimmer‘ aufgeräumt und übersichtlich halten. Dieser Wahnsinn muss die Menschen verwirrt zurücklassen. Nur so ist zu erklären, warum viele von ihnen nach der vermeintlichen Ordnungsmacht USA rufen, auch ein stärkeres militärisches Engagement Europas wünschen. Sie wollen das Chaos in ihrer Heimat ausgerechnet Hand in Hand mit dem Teufel ordnen, der ihnen das ganze Elend eingebrockt hat.
So ziehen undurchsichtige und menschenverachtende Machtspiele immer neue undurchsichtige und menschenverachtende Machtspiele nach sich. Die Resultate sind Tod und Verwüstung. Wer Glück hat, dem gelingt die Flucht. Doch wer es bis nach Europa schafft, der hat die eigene Entmündigung längst noch nicht hinter sich gelassen. Im Gegenteil, sie erneuert sich in der Rhetorik einiger Politiker, die so gar nicht zu der bemerkenswerten (und noch mehr bewundernswerten) Hilfsbereitschaft von Millionen Bürgern passen will. Das Unwort „Taschengeld“ ist eingebettet in eine Debatte um irgendeine – stets nebulös bleibende – Leitkultur, die allein dazu taugt, den Boden zu bereiten für das allmontagliche Aufmarschieren der Fremdenfeindlichen in Dresden, für massenhaft brennende Flüchtlingsunterkünfte und zusammengetretene Asylanten.
Bei genauerer Ansicht dieser Leitkultur, von der vor allem christdemokratische und christsoziale Politiker gerne faseln, wird eine gewaltige Kluft zwischen Selbstsicht und Realität erkennbar. Sie sagt weniger etwas über die Werte aus, nach denen die Flüchtlinge sich richten sollen, als vielmehr etwas über die substanzlose Arroganz mancher Deutscher. Aber was macht denn den christlich-abendländisch-aufgeklärten Deutschen nun eigentlich aus? Er ist so integer, dass es ihm kein schlechtes Gewissen bereitet, Millionen Menschen weltweit mit betrügerischer Absicht manipulierte Autos unterzujubeln; er kann sportliche Großereignisse hervorragend ausrichten (man stelle sich das Durcheinander der Araber vor!), wobei er großzügig darüber hinwegsieht, den Zuschlag allein durch Korruption und Bestechung erhalten zu haben; er kann planen – dieser famose, (leit)kultivierte Deutsche -, ist sparsam und effektiv, nur bei den wirklich dicken Fischen – bei Bahnhöfen, Flughäfen und Konzerthäusern – da verlassen ihn seltsamerweise all diese selbst zugesprochenen Kerneigenschaften; er ist natürlich auch friedliebend, geläutert durch sein Jahrtausendverbrechen – auf die Vorzüge, die eine der größten Kriegswirtschaften der Welt mit sich bringt, möchte er allerdings nicht verzichten; auch will er die Verfassung als letztes Wort unbedingt akzeptiert wissen, schielt dabei jedoch nur auf muslimische Einwanderer und erblindet hierüber auf dem rechten Auge so sehr, dass eine Terrorgruppe jahrelang durch das Land ziehen und seine hochverehrte Verfassung in den Dreck treten kann. Ausgehend von dieser Vielzahl an Widersprüchen ist in jüngster Zeit bereits häufiger gefordert worden, die Deutschen mögen doch bitte von ihrem hohen Ross herunterkommen. Grundsätzlich ist diese Forderung richtig, sie übersieht jedoch, dass das hohe Ross nie etwas anderes war als ein schwächliches, abgemagertes Pony. Laiendiagnose: akute Don Quijoterie. Jedem Flüchtling sei geraten, um die ‚deutsche Leitkultur‘ einen großen Bogen zu machen. Diese wurde bierselig am Stammtisch (mit Deutschlandfahne!) entworfen und dort auch zertrümmert; das Grundgesetz leistet zwecks Orientierung die wesentlich besseren Dienste.
Die Rede vom Taschengeld ist Symptom dieser Märchenerzählung vom aufrichtigen, koordinierten, moralisch höherstehenden (deshalb zur Belehrung berechtigten) Deutschen. Flüchtlinge benötigen Hilfe und Schutz, zu Kindern müssen sie deshalb noch lange nicht degradiert werden. Das Letzte, was sie in ihrer Lage benötigen, ist der erhobene Zeigefinger, die Belehrung über Werte und Normen von Politikern, die mit ihrer Sprache allein eine Spaltung zwischen Einwanderern und ‚Eingeborenen‘ bezwecken wollen. Dieses archaisch anmutende Wort verweist auf die dünne Legitimationsgrundlage, die eigentlich ihren Name nicht verdient: Die Entscheidung, wer bleibt und wer leider abgeschoben werden muss, für wen noch Platz ist und wer das Kontingent sprengt, darf getroffen werden, weil man zuerst im Lande war, weil einem die Gnade eines in jeder Hinsicht günstigen Geburtsortes zukommt. Auf dieser Grundlage zu argumentieren zeugt von großer geistiger und/oder moralischer Armut, schändlich wird es im Moment der Einsicht, dass Europa und die Vereinigten Staaten mitverantwortlich für das Elend dieser Menschen sind.
Der Westen hätte bereits vor sehr langer Zeit seine Beziehungen zum Nahen Osten und zu Afrika grundlegend überdenken sollen. Die Menschen hätten mit ihren Wünschen und Ängsten als die Erwachsenen behandelt werden müssen, die sie sind. Anstatt eigenverantwortliches Handeln zu fördern, hat man jedoch mit Geld und Waffen verschiedene Gruppierungen gegeneinander aufgehetzt, mit den widerlichsten Despoten Geschäfte gemacht (und macht es bis heute) und das vollendete Desaster schließlich mit der honigsüßen Heuchelei vom Demokratieexport garniert. (Es muss nur einmal genau hingehört werden, welche Werte nach den Anschlägen vom vergangenen Wochenende in Paris verteidigt werden sollen – ausgerechnet von Washington und London aus: Es kann einem übel werden!) Es ist natürlich nicht alles zu verteufeln, was an Vorschlägen und Maßnahmen aus Europa oder den USA kommt; es ist allerdings auch bei weitem nicht alles gutzuheißen. Dass bereits ein so unscheinbares Wort wie „Taschengeld“ verrät, wie tief das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Fremden noch immer verwurzelt ist, sollte der Politik als auch den unzähligen Verteidigern eines Abendlandes, das nie existiert hat, zu denken geben.
Kurzfristig ist Besserung leider nicht in Sicht: Aus der Union sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die die Geld- durch Sachleistungen ersetzen wollen. Dies würde die Flüchtlinge endgültig auf die Rolle der abhängigen Kinder festlegen. Das Kalkül dürfte klar sein: Hilflose Menschen lassen sich schlichtweg leichter abschieben als selbstständige.
(Dieser Text ist der Auftakt einer kleinen sprachkritischen Artikelreihe, die sich an obigem Zitat aus Karel Havlíček Borovskýs Aufsatz „Kommunismus“ orientiert. Sie wird demnächst fortgesetzt mit einem Beitrag zum Wort „Hilfspaket“.)