Was gerne immer wieder gehört wird, was dabei seine Frische nicht einbüßt, wird Evergreen genannt. Im Gegensatz zu immergrünem Liedgut, das durch die Jahrzehnte wandert, kommt die leidige Debatte um den Islam, Deutschland und die Leitkultur mindestens als Evergrey, vielleicht auch schon als Everblack daher.
Dass Horst Seehofer seine geistige Totgeburt gerade jetzt in die Welt setzt, hat natürlich seine politischen Gründe. Dabei geht es weniger um Deutschland und den Islam als um Seehofer selber: Da spricht zuvorderst der aus seinem geliebten Freistaat vertriebene, ehemalige Ministerpräsident. Von München aus besehen ist schließlich jedes Bundesministerium als eindeutiger Karriereknick zu werten. Dass ausgerechnet Markus Söder mittlerweile in der Bayerischen Staatskanzlei weilt, macht die Sache auch nicht angenehmer. Der darf nun ‚Außenpolitik‘ fürs Alpenkönigreich machen, mal zu Putin nach Moskau oder zu Orbán nach Budapest reisen – je nachdem, wer sich als möglichst schlechte Gesellschaft gerade anbietet. Währenddessen sitzt Seehofer bei den Preußen in Berlin fest; damit nicht genug, er ist nun auch für rheinische Nichtskönner, pöbelnde Ossis und maulfaule Fischköppe verantwortlich. Wie gesagt, aus bayerischer Perspektive ist Bundespolitik eine echte Zumutung. Um nun dem eigenen Bedeutungsverlust zumindest ein paar Schlagzeilen entgegenzusetzen, wird halt der Satz vom Islam, der nicht zu Deutschland gehöre, wieder aufgewärmt.
Zum persönlichen Motiv gesellt sich zudem wohl das Kalkül, hiermit der Sache der CSU im anstehenden Landtagswahlkampf dienlich zu sein. So groß wie Bayern oder die Partei ist dann selbst das Ego von Horst Seehofer nicht. Dass es allerdings mit der Strategie, die Rechten rechts zu überholen, nichts zu gewinnen gibt, wird die CSU wohl ein weiteres Mal lernen müssen. Eine vergeigte Bundestagswahl war da augenscheinlich noch nicht ausreichend.
Nun bietet sich das Gedankenexperiment an, die beiden bisher genannten Gründe (die ja unterstellen, Seehofer meine den Satz gar nicht ernst) einmal außen vor zu lassen. Angenommen also der neue deutsche (nicht bayerische!) Innenminister wäre tatsächlich der Überzeugung, eine bestimmte Religion gehöre nicht zur Bundesrepublik: In seinem pauschalen Rattenfängerton kann der Satz, für sich stehend, so verstanden werden, als gehörten sämtliche, im Land lebende Muslime nicht zu Deutschland. Er ist bewusst so angelegt, soll er doch von den richtigen Leuten, vornehmlich den von der blau-weißen Fahne gegangenen Protestwählern, auf diese Weise (miss)verstanden werden. Alle weiteren Zusätze sichern den Politiker Seehofer ab, gehen ansonsten allerdings unter. Stünde Seehofer nun hinter der freistehenden, kontextlosen Parole, so gäbe er ein Bild ab, das noch weitaus jämmerlicher wäre als das vom jaulenden, weil angeschossenen Platzhirsch. Wer bei jeder Gelegenheit auf Verfassungs- und Gesetzestreue pocht, der sollte bei eigenen Beiträgen den Paragraphen 4 des Grundgesetzes nicht vergessen: Wie jeder andere Glaube ist auch der Islam von der Religionsfreiheit geschützt.
Dass unter dem Deckmantel, ein besonders aufrechter Moslem zu sein, nicht wenig Terror und Unterdrückung in der Welt verbreitet wird, begründet keine Ausnahme vom Gesetz (die Lex Horst, wenn man so möchte), sondern macht seine Existenz umso wichtiger für die Mehrzahl all jener Muslime, die ihren Glauben friedlich ausleben. Es sollte damit aufgehört werden, ständig Ganzes mit seinem je schlechtesten Teil zu identifizieren: Dann wäre das Christentum Hexenverbrennung, Inquisition und Pädophilie, Deutschland wäre Auschwitz und Treblinka und der Fußball das Gruselgekicke vom Hamburger Sport Verein. Auf diese Weise werden undifferenziert die Aufrichtigen, Guten und Gerechten ausgespart, die es – in mal mehr, mal weniger großer Anzahl – auch gibt. Im Fall der Muslime hätten sie die Solidarität ihres Innenministers verdient. Stattdessen macht Seehofer das bayerische Tal so eng, dass nur mehr Maria und Josef (doch hoffentlich nicht zugewandert aus der Levante!?), mit Dirndl und Seppelhut, in ihm Platz haben.
So sah Bayern lange Jahrhunderte, bis weit ins 20. aus – und war bereits all die Zeit in gewisser Weise ein Anachronismus. Denn nicht die Homogenität eines weitgehend statischen Lebens, sondern kultureller Kontakt und Austausch sind der historische Normalfall: Ostelbisch zeigt sich slawischer Einfluss, an den Küsten skandinavischer, im Südwesten französischer. Auch die Sprache hat, insbesondere frühneuzeitlich, Impulse links vom Rhein empfangen, in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Englischen; die deutsche Klassik ist ohne Italien, als zu bereisendes Antiken-Museum, nicht zu denken, die Philosophie nicht ohne Griechenland. Letztlich braucht der Blick nicht einmal über die Landesgrenzen zu schweifen, um ständige Vermengung und Konfrontation als Dauerzustand einer Kultur auszumachen. Es lässt sich ‚Deutschland‘ sagen und Marx, Engels und Luxemburg meinen. Es lässt sich aber auch ‚Deutschland‘ sagen und Heidegger, Jünger und Spengler meinen. Wenn diese große Integrationsleistung in die deutsche Kultur gelingt, sollte auch für ein bisschen Islam noch Platz sein.
Nun, würde Horst Seehofer wohl zu derartigen Einwänden sagen, alles richtig, doch seien all die genannten Einflüsse eben prägend für die europäische und die deutsche Kultur, der Islam sei es aber nun einmal nicht. Hier werden die oben bereits erwähnten Zusätze bemüht, die in Richtung Leitkultur weisen. Markus Söder bellte es jüngst im SPIEGEL nach: Kulturell prägend seien Christentum, Judentum und Humanismus, nicht jedoch der Islam. Als Schlussfolgerung schließlich (durch die der geschulte Beobachter weiß: Hier ist jemand bereits sehr früh angekommen im Amt): In die Schule gehörten Kruzifixe, keine Kopftücher. Nicht überraschend, dass auch die Behauptung, der islamische Kulturraum habe keinen Einfluss auf Europa gehabt, falsch ist: Genug griechische Antike konnte im europäischen Mittelalter nur dank Gelehrten wie Ibn Rushd und Ibn Sina wieder aufgegriffen werden; Südeuropa liegt kulturell in vielerlei Hinsicht, etwa in Sachen Architektur und Alltagsleben, viel näher am Orient als an Mitteleuropa; und Goethe schließlich, der Dichterfürst höchstselbst, hat seine schönsten Verse gegen christliche Herrenkirche und religiöses Duckmäusertum im Anruf Allahs geschrieben („Was? Ihr mißbilliget den kräftgen Sturm / Des Übermuts? Verlogene Pfaffen! / Hätt Allah mich bestimmt zum Wurm, / So hätt er mich als Wurm geschaffen“, West-Östlicher Divan). Dies kommt wohl an bayerischen Schulen, mit ihren vielen Kruzifixen an den Wänden, eher nicht vor. Schließlich will man Untertanen, die vorm Kreuz buckeln, keinen am besten von Aufklärung und humanistischem Christentum geschulten Nachwuchs.
Dass Söder nun das Kruzifix zum Stamminventar einer jeden bayerischen Amtsstube erhebt, wo es „sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland“ (O-Ton der Staatskanzlei) sein soll, mutet vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten nur konsequent an: Wer sich hartnäckig ignorant gegenüber Kulturellem zeigt, sollte diese Haltung schließlich auch der Demokratie entgegenbringen. In ihrem Stammbaum stehen fortan nicht mehr der Wille des Volkes und die Menschenrechte, sondern der Wille der Kirche und die Bibel. In der Kruzifix-Verordnung mit ihrer hanebüchenen Begründung ist so viel Dummheit enthalten, dass eigentlich nur Boshaftigkeit dahinterstecken kann. Markus Söder kann nicht ernstlich überzeugt sein, dass seine Beamten auf die Heilige Schrift eingeschworen sind und der Hahn auf den Kirchtürmen seit jeher ein gallischer war.
Zum Humanismus, den Söder ja auch gleich mit vereinnahmt hat, findet sich eine treffende Definition des Philosophen Hans Heinz Holz (als Marxist wohl eher nicht Teil der bayerischen Leitkultur): „Als lebendiger Daseinswert und als Auftrag heißt Humanismus: angeeignetes Erbe und aufgenommene Zukunft“ (Holz, Freiheit und Vernunft, Bielefeld 2015, S. 41). Bei Leuten wie Markus Söder und Horst Seehofer hingegen heißt Humanismus: verfälschtes Erbe und verweigerte Zukunft. Anstatt aus einem tiefen und weiten kulturellen Fundus zu schöpfen, zu dem eben auch die islamische Tradition gehört, und hierüber offen für Neues in der Gegenwart zu sein, verordnen sie Scheuklappen, die die Menschen ums Erbe halb und um die Zukunft gleich ganz betrügen. Was bleibt, ist ein Erstarren in kultureller Inzucht.
Mit Verweis auf fehlenden Einfluss des Islams ist für Seehofer und Konsorten folglich nichts zu gewinnen. So wird sich auf Quantitatives zurückgezogen, auf den Hinweis also, anderes hätte einen größeren Einfluss gehabt. Auch wenn Bethlehem und Jerusalem nicht in Niederbayern liegen, das Christentum hat dort sicherlich tiefere Spuren hinterlassen als jede andere Religion. Doch diese Vorrangstellung gilt eben auch zum Beispiel gegenüber dem Judentum, das ja seinerseits wiederum – glaubt man den Leitkulturfühligen unter den Christsozialen – zum Land dazugehören soll. Das Messen mit zweierlei Maß führt hier noch einen besonders bitteren Beigeschmack mit sich, war man doch jahrhundertelang vor allem darauf bedacht, den Einfluss des Judentums auf den europäischen Kulturraum möglichst klein zu halten. Die Juden sind als Brunnenvergifter und Wucherer erschlagen, wie Aussätzige in Ghettos verbannt und schließlich zu Millionen ins Gas getrieben worden. Leitkultur – auch die christliche – ist hier vor allem eine der Vernichtung, der alles Leitende abgesprochen gehört. Das geschieht; zugleich wird richtigerweise aus dieser Geschichte eine entschiedene Zugehörigkeit für die Gegenwart abgeleitet. Die christlich-jüdische Leitkultur hat als friedliche allerdings erst noch Fleisch anzusetzen, so viel Zeit ist nach ’45 dann doch noch nicht vergangen. Auch die sich in den vergangenen Monaten häufenden antisemitischen Übergriffe, die auch, aber beileibe nicht nur von Zugewanderten begangen wurden, geben hiervon Zeugnis. Umso entschiedener sollte sich die jüdische Seite jeder Vereinnahmung erwehren, die die christlich-jüdische Leitkultur gegen den Islam in Stellung bringen will: Hier wird der Paria von einst instrumentalisiert, um einen neuen zu schaffen. Bei jemandem wie Horst Seehofer wird die Leitkultur wieder ganz allein und im schlechtesten aller Sinne christlich, nur blutige Hände hat sie (noch) nicht.
Was letztlich bleibt nach diesem experimentellen Blick auf Gesetze, auf Wesen und Geschichte von Kulturen, ist die Einsicht: Wieso hat ein bayerischer Kleingeist Kulturelles einer Leitung zu unterziehen, zumal dies historisch zumeist in Unterdrückung und Diskriminierung mündete? Leitkultur ist nicht etwas, das irgendwie vorhanden wäre, sondern etwas, das erst durch Sätze wie die Seehofers künstlich geschaffen wird. Deshalb, nun als rhetorische, noch einmal die Frage, die über dem gesamten Text steht: Wozu der Evergrey von der Leitkultur? Wohin des Weges, Horst? Hoffentlich bald in Richtung Rente, Pensionär für Bayern und Deutschland (gerne in genau dieser Reihenfolge), die hässliche Melodie von Deutschland, dem Islam und der Leitkultur flötend, bei Brotzeit und Maß, unter dem Kruzifix.