Wenn Probleme offensichtlich werden, folgt gerne der Blick in die Vergangenheit, um die Mahner von gestern ausfindig zu machen. Die Suche nach denjenigen, deren Analysen und Prognosen sich als korrekt erwiesen haben, kann als Nebensächlichkeit oder bloße Chronistenpflicht abgetan werden; sie zeigt jedoch, bei wem sich das Zuhören lohnt, wer eine ungetrübte Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen hat. Zu diesen Personen zählte (mitunter) auch der mittlerweile verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2001 erschienenen Essayband „Der neue Mensch“ stechen zwei Kapitel hervor, die auch für die Lage im Jahr 2016 noch erhellend sind. Sie handeln von Trugbildern – dem des deutschen Weltbürgers sowie dessen Umzingelung von Freunden.
Der Weltbürger
Wie einheitlich genormte Stichwortmaschinen geben Vertreter von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft die Worte „global“ und „international“ von sich. Gemeint sind nicht nur Warenströme, die Zirkulation von Wissen oder die Tragweite politischer Entscheidungen, sondern auch ein Selbstbild dieser Menschen. Die eigene Identität wickelt sich einmal um den Globus, sie ist (vermeintlich) maximal aufnahmefähig für neue Eindrücke, Kulturen und Lebensweisen. Dass es oftmals der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf dem man sich trifft, gewissermaßen die Schrumpfstufe einer Identität, geformt in mäßigem Englisch zwischen Hotel, Starbucks und Abflughalle, soll an dieser Stelle vernachlässigt werden. Wichtiger am Selbstbild des Weltbürgers ist seine Herabwürdigung aller lokalen und nationalen Identitäten – mit denen insbesondere die Deutschen so ihre Probleme haben, marschieren bei Begriffen wie „Volk“ und „Nation“ doch gedanklich gleich die Nationalsozialisten auf.
Hondrichs zentrale Beobachtung bestand darin, erkannt zu haben, dass sich das Selbstverständnis als Weltbürger fast ausschließlich innerhalb der Eliten findet. Deren Vertreter können es sich leisten, von und mit den Fremden zu lernen, sich auszutauschen und Handel mit ihnen zu treiben. Unterhalb der Firnis des Weltbürgertums der Bessergestellten, die dieses gleich für das gesamte Land behaupteten, blieb die Fremdheitserfahrung für die meisten Menschen vollkommen aus. Man schottete sich ab, sah in den Zugezogenen keine kulturelle Bereicherung, sondern vornehmlich Konkurrenten um Arbeitsplätze und Sozialleistungen. Dass unterhalb des Schleiers ‚Weltbürgertum‘ die Grenzen zwischen Deutschen und Migranten immer weiter erstarrten, konnte vernachlässigt werden, solange Asylanten und Einwanderer in homöopathischen Dosen ins Land einsickerten. Nachdem im vergangenen Jahr allerdings Hunderttausende nach Deutschland kamen, traten diese Grenzen offen zutage. Die Erzählung vom deutschen Weltbürger wurde als Mär entlarvt.
Die Anhänger von Pegida und AfD wollen sich keinerlei Fremdheitsgefühl aussetzen. Sie wissen nicht, dass sie überhaupt erst durch den Kontakt mit dem Anderen, durch den Blick in einen Spiegel, der nicht nur das Bekannte zeigt, das Eigene erfassen können. Sie scheuen den Blick auf die Fremden und damit auch den Blick auf sich selber. Hieraus erwächst die größte Paradoxie der Bewegung: Ihre Anhänger haben keine Ahnung, was sie als Europäer und als Verteidiger des Abendlandes ausmacht und dennoch gehen sie unter dem Banner der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße. Würden sie sich mit der Geschichte Europas auseinandersetzen, so würden sie auf die universalistischen Ideale der Aufklärung stoßen, auf die christliche Ethik der Nächstenliebe sowie auf die Tatsache, dass sie sich mit der irrwitzigen Behauptung einer islamischen Verschwörung zur Unterwanderung Europas in äußerst schlechter Gesellschaft befinden; im Vergleich zur Vergangenheit hat sich einzig das Feindbild geändert: Bei Pegida sind es nicht mehr die Juden (die werden unberechtigterweise zu Komplizen gemacht), sondern die Muslime, denen eine Verschwörung angedichtet wird. Kurzum, würden sich diese Menschen mit dem beschäftigen, was sie zu verteidigen vorgeben, müssten sie zu dem Ergebnis kommen, dass sie es selber sind, die die Früchte abendländischer Tradition in den Dreck treten, während sie zugleich mit deren Fäulniserscheinungen – Fremdenfeindlichkeit, Hetze, mitunter offener Rassismus – hausieren gehen.
So bricht sie gegenwärtig hervor, die Grenze zwischen den Autochthonen und den Zugewanderten, die im Verborgenen immer breiter und höher geworden ist. Hinter ihr finden sich längst nicht mehr nur die unmittelbar Bedrohten – die Arbeitslosen und Ungelernten – ein, sondern auch diejenigen, die sich nur – wie diffus auch immer – bedroht fühlen. Die Mittelschicht ist ein zu reichhaltiges Reservoir, um sie in diese Isolation entlassen zu können; und Angst ist hochansteckend. Folglich ist der Pessimismus, mit dem Hondrich seine Analyse durchtränkt, kontraproduktiv; Kulturen seien für tiefgreifenden Kontakt, für Austausch und Vermischung zu komplex und voraussetzungsreich, so der Soziologe; auch das ökonomische Gefälle, das sich oftmals über Generationen fortschreibe, stünde dem im Wege. Derartige Schwarzmalerei ist unangebracht: Wenn keine vollends hybride Kultur angestrebt wird, wenn auch nicht die Verwandlung des Migranten in einen deutschen Durchschnittsbürger eingefordert wird, wenn auf den Austausch auch das simple Feststellen von Unterschieden folgen kann, ist die Integration zumeist bereits geglückt – das Fundament geteilter Grundsätze und Werte kann weitaus schmaler sein, als es viele Politiker entwerfen; die Angst lässt sich am besten mit Toleranz verscheuchen.
Von Freunden und Feinden
Gänzlich entwichen war die Angst für sehr lange Zeit aus der deutschen Außenpolitik. Das Bonmot, man sei nach dem Zerfall der Sowjetunion von Freunden umzingelt, machte die Runde. Karl Otto Hondrich hat auch in diesem Fall darauf aufmerksam gemacht, dass diese Annahme nicht uneingeschränkt richtig ist. Wie beim vermeintlichen Weltbürgertum klöppelt die Sprache auch in diesem Fall einen Schleier, der noch vorhandene Probleme im Verborgenen gären lässt. Zudem kennt auch eine Gesellschaft, die sich vollkommen frei von Feindbildern wähnt, noch mindestens einen großen Gegner: „Natürlich halten wir die eigene, feindbildfreie Gesellschaft für besser als alle anderen Gesellschaften, die es vermeintlich nicht so weit gebracht haben. Daß wir an der Ausbildung neuer Feindbilder beteiligt sind und damit an alte anknüpfen, verbirgt sich uns gerade deshalb, weil wir von den Feindbildern nichts mehr wissen wollen.“ (Hondrich, Karl Otto, Der neue Mensch, Frankfurt am Main 2001, S. 137.)
Wie fein Hondrichs Gespür für diese alten, verdrängten Feindbilder war, zeigt ein Blick auf die von ihm gewählten Beispiele. So sieht er in der Reaktion des Westens auf Wladimir Putins Innenpolitik sowie auf dessen Agieren während des Tschetschenienkrieges ein Aufleben des zaristischen und sowjetischen Feindbildes: Eine gedemütigte Nation will ihren Status als Großmacht wiederherstellen. Zugleich notiert Hondrich, dass auch auf russischer Seite die Feindbilder von einst ungestört weiterleben: Die Intervention des Westens auf dem Balkan, die Wucht eines zügellosen Kapitalismus, die NATO-Osterweiterung – all dies nährte das alte Feindbild vom westlichen Imperialismus.
Hondrichs Analyse verdient zwei Attribute: Sie ist ernüchternd, weil beide Seiten letztlich richtig liegen – Putin geht es mindestens um die Teilrestauration des Sowjetimperiums und dem Westen geht es um die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen. Zugleich ist sie auch erstaunlich, denn offensichtlich lagen bereits vor 15 Jahren – zumindest für wache Geister – die Karten auf dem Tisch, sodass es einen wundernimmt, wie dieselben Erkenntnisse im Zuge der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine von manch einem als überraschende Neuigkeiten verkauft werden.
Viel Unheil hätte verhindert werden können, wären die Probleme bereits damals von der Politik offen angesprochen worden. In dieser Hinsicht hatte sich im Übrigen Putin positiv von seinen westeuropäischen und amerikanischen Kollegen abgesetzt. Doch auf russische Befindlichkeiten nahm man seinerzeit keine Rücksicht; das Land war ein bisschen das Schmuddelkind unter den neu gewonnenen ‚Freunden‘ im Osten. Mit dem ehemaligen Hegemon mochte man sich nicht recht einlassen – die rhetorische Annäherung, bei der die politische Linke energisch voranging, blieb weitestgehend folgenlos; lieber band man einstige Satellitenstaaten in das eigene Militärbündnis ein. Es galt also diesen Ländern Sicherheitszusagen zu machen, sie zu beschützen. Doch vor wem? Im Kreml hatte man sehr schnell eine Antwort auf diese Frage gefunden.
Das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist nicht durch das plötzliche Durchdrehen eines wildgewordenen Draufgängers charakterisiert. Vielmehr hat sich Putin allmählich zum Despoten entwickelt; er hat die Stimmung im eigenen Land Schritt für Schritt in Richtung einer nationalen Erweckung entfacht und der Westen hat ihm hierbei zuverlässig ein Scheit nach dem anderen gereicht. Als Hondrich 2001 die Keimzellen der gegenwärtigen Probleme beschrieb, hätte noch ein Feuerlöscher ausgereicht – heute wird man die diplomatische Feuerwehr brauchen, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und irgendwann vielleicht tatsächlich einen Freund in Moskau zu finden.