Der Titel dieses Blogs mag zunächst einen fahlen Beigeschmack haben; vielleicht auch dann noch, wenn seine Erläuterung vernommen wurde: Warum sich annähern, anstatt nach letzten Gewissheiten zu suchen? Da kann es nicht schaden, einmal einen Blick auf das Negativ, auf all jene Dinge, die an dieser Stelle keinen Platz finden sollen, zu werfen. Einer der Krawallbrüder des deutschen Feuilletons, Maxim Biller, lieferte für diesen Zweck unlängst ein brauchbares Beispiel in der ZEIT: seitenweise vor Ekel hervorgewürgte Tiraden, Simplifizierungen und unverschämte Vergleiche, adressiert an die politische Linke vergangener und gegenwärtiger Zeiten. Biller verkündet seine Letztwahrheiten mit einem Furor, der für Gegenstimmen, für das Abwägen von Argumenten, keinerlei Platz lässt. Dass ein solches Vorgehen wider jede intellektuelle Bescheidenheit seit Jahrzehnten seine Masche ist, um Aufmerksamkeit zu generieren, macht es nicht besser.
Ausgehend von der eigenen Biografie (Flucht in den 60er Jahren aus der Tschechoslowakei nach Deutschland) wird das Urteil über die 68er und ihre von Biller ausgemachten Wiedergänger in der Gegenwart absolut ausgesprochen: Nichts als ahnungslose Träumer, die auf dem Ruhekissen des Wirtschaftswunders (beziehungsweise des sich bis in die Gegenwart dehnenden „Goldenen Zeitalters“) ihren Idealen nachhingen – dies fern jeder Praktikabilität und mit dem totalitären Anspruch, das Heil für alle anderen Menschen zu kennen. Insbesondere aufgrund des letztgenannten Zuges sieht Biller die Anhänger der neuen-alten Linken in enger geistiger Verwandtschaft sowohl zu ihren Nazi-Eltern und -Großeltern als auch zu dem von ihnen vergötterten Totalitarismus sowjetischer Prägung. Wer seinen Marx kennt, bewunderte früher Stalin und Hitler, heute eben Putin. Ja, so schlicht geht es tatsächlich zu in der Welt Maxim Billers.
Es ist ein Paradox: Biller schafft es aus einer vollkommen undifferenzierten Fundamentalopposition, den Linken Schwarz-Weiß-Malerei vorzuwerfen. Warum Widersprüchliches dieser Art dennoch bei vielen Menschen verfängt, erklärt sich über den Umstand, dass Billers Vorwürfe selten vollkommen haltlos sind; sie treffen zumeist teilweise zu, werden von ihm jedoch perfiderweise stets als unumstößliche Dogmen dargeboten. Hat es die von Biller unterstellten Moralimperialisten unter den 68ern gegeben? Ganz bestimmt! Hat es diejenigen gegeben, die von den Gräueln in der Sowjetunion nichts wissen wollten? Aber natürlich! Gab es auch die Langhaarigen (Frisuren scheinen Biller irgendwie wichtig), die ihre Marx-Ausgaben und die edition suhrkamp im Regal verstauben ließen, lieber auf das Gefühl, für die richtige Sache einzutreten, als auf die Analyse setzten? Auch das! Nur es waren eben – anders als Biller suggeriert – nicht alle. Es ist seinerzeit überwiegend von Sozialismus abzüglich der Exekutionen, Schauprozesse und Arbeitslager gesprochen worden. Doch der Biller’sche Totalitarismus kann diesen Gedanken nicht zulassen – weder für die Vergangenheit noch für die Gegenwart: Slavoj Žižek, Sahra Wagenknecht, Bernie Sanders, Jakob Augstein – alles verkappte Bolschewisten oder Wehrmachtsoffiziere (man sieht, auch weltanschauliche Differenzierung ist Billers Sache nicht), die nur auf ihre Stunde warten, um die Massen – wie einst ihre geistigen Vorbilder – zu unterjochen. Als Nachweise, welch grober Unfug hier von Biller verbreitet wird, genügen ein Blick auf Wagenknechts zuletzt geäußerten Mahnungen die Flüchtlingspolitik der Regierung betreffend sowie auf Augsteins jüngste Kolumne auf SPIEGEL Online. Anders als Biller behauptet, geht es beiden um Deeskalation und Ausgleich, nicht um autoritäres Moralisieren.
Warum ein Text, in dem argumentierende Menschen in die Nähe von Massenmördern gerückt werden, so viel Platz eingeräumt wird, bleibt wohl das Geheimnis der ZEIT-Redaktion. Was Biller betreibt, ist letztlich Geschichtsverfälschung der billigsten Sorte: Anstatt sich die Mühe der Unterscheidung zu machen, braut er einen ideologischen Cocktail, an dem sich all jene berauschen können, die sich (warum auch immer) an dem von ihm ausgerufenen Mitte-Links-Mainstream stören. Dass er für derartige Vereinfachungen reichlich Applaus aus den Reihen von Pegida und AfD ernten könnte, scheint Biller nicht weiter zu stören. Er sucht lieber den Schulterschluss im Angesicht des gemeinsamen Feindbildes, dessen historische Leistungen von ihm schlicht übergangen werden: die Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch die 68er – und zwar nicht nur als Symbolakt im Parlament, sondern auf allen Ebenen des Staates, in der Wirtschaft, auch in den Familien –, die Emanzipation der Frau von männlicher Vormundschaft, der Gebrauch demokratischer Freiheiten, mehr Sensibilität im Umgang mit Minderheiten, mehr Toleranz – über all diese Errungenschaften sieht Biller hinweg; er fährt lieber fort mit seiner Litanei über den undemokratischen, besserwisserischen Geist der Linken. Wie ernst muss jemand genommen werden, der tatsächlich zu meinen vorgibt, im Adenauer-Deutschland der 50er und 60er Jahre, einer Zeit, in der Staat und Justiz von Alt-Nazis durchsetzt waren und noch reichlich preußischer Geist durch deutsche Wohnstuben wehte, sei es liberaler zugegangen als in den 70er Jahren?
Weder im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit noch hinsichtlich des Gedeihens von Toleranz und Liberalität in der jungen Bundesrepublik bringt Biller die 68er ins Spiel; stattdessen suggeriert er, ein paar Jahre amerikanischer Umerziehung hätten selbiges geleistet. Überhaupt, auch die vermeintlich pauschale Verteufelung der USA durch die Linken ist für Biller ein rotes Tuch. Nur mit großen Emotionen ist seine wahnwitzige Bemerkung zu erklären, die 68er und ihre Nachfolger würden sich tatsächlich fürchten vor der „Vielfalt, Liberalität und absolute[n] Meinungsfreiheit“ in den Vereinigten Staaten. Sicherlich meint Biller die Vielfalt, die es in manchen Bundesstaaten Schwarzen bis in die 60er Jahre (just die Zeit also, in der sich die Studenten regten) nicht erlaubte, sich neben einen Weißen zu setzen, oder die Liberalität, die zwischen New York und Los Angeles seit jeher am Inhalt des Portemonnaies gemessen wurde (und bis heute gemessen wird). Geschichtsverfälschung also auch hier, in diesem Fall eine, die den wirren Gedanken Billers noch abträglich ist. Denn der linke Nazi, den er herbeifantasiert, müsste sich doch vor dem amerikanischen Rassisten, den er übersieht, nicht fürchten; sie hätten miteinander vermählt werden können, gewissermaßen mit Biller’schem Segen. So hätte wenigstens ein Funken Wahrheit Einzug gehalten in seinen Text.
Doch um Wahrheiten jenseits seiner eigenen, notdürftig zusammengezimmerten, geht es Biller nicht; was sich an Gegenbelegen auf dem von ihm mit aller Brachialrhetorik gebahnten Weg zeigt, wird im Wortsinn über-gangen: Die Kriege der USA in Vietnam und Korea, der Rassismus im Land (der momentan wieder überkocht), die schreiende soziale Ungerechtigkeit, der Krieg im Irak – mit Lügen begonnen, im Chaos beendet –, Guantánamo, Abu Ghraib, die vom Staat angeordnete Folter, die absolute Herrschaft des Geldes in der Medienlandschaft, der daraus resultierende Populismus – alles beerdigt unter der Trias aus „Vielfalt, Liberalität und absoluter Meinungsfreiheit“. Eigentlich sollte die Feststellung derartiger Verfehlungen und Verbrechen nicht mit einer Verteufelung der USA verwechselt werden, ebenso wenig wie das Erinnern an die Leistungen der 68er mit deren Verherrlichung. Eden und Mordor existieren nur in Fantasy-Büchern; wenn Biller sie als real verkündet, ist dies nichts anderes als ideologisches Gewäsch.
Dass es Biller nicht um das Abwägen von Argumenten geht, sondern um deren Sichtbarkeit, offenbart das verräterische Wort „ungelesen“, das gleich zwei Mal in seinem Text auftaucht. Er argumentiert nicht gegen Gedanken, die sich bei Marx und in den Bänden der edition suhrkamp finden, sondern wirft den alten und ‚neuen‘ Linken vor, sie hätten ohnehin nie in diesen Büchern gelesen. Die Möglichkeit, dass durchaus Brauchbares in diesen Texten zu finden sein könnte, lässt Biller folglich offen. Nicht begrifflich scharfe Kapitalismuskritik, deren Großmeister bis heute Karl Marx heißt, ist sein Gegner, sondern das Ephemere der Teil- und Kurzzeitlinken, deren schwächliche Etikettierungen „links“ und „marxistisch“ in der Regel die nächste Modewelle nicht überstehen. Biller inszeniert sich als mutige Gegenstimme zum Mitte-Links-Mainstream, tatsächlich kämpft er den Kampf eines Feiglings gegen diejenigen, die weder das Rüstzeug noch das Interesse haben, sich zu wehren.
Zur Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit gesellt sich am Ende des Textes noch ein weiterer Widerspruch: Angesichts der gegenwärtig unruhigen Zeiten rät Biller der ‚neuen‘ Linken, sie solle endlich den realitätsfernen, totalitär-herablassenden Blick der alten Linken ablegen: „Und überhaupt sollte man die Gegenwart niemals mit der Vergangenheit verwechseln, denn das ist erstens einfach nur falsch, zweitens reaktionär, und drittens führt Rückwärtsgewandtheit in der Politik meist zu sehr gegenwärtigen Katastrophen.“ Ist ein Widerspruch basierend auf einem Fehlschluss jemals schulbuchmäßiger zu Papier gebracht worden? War es nicht Biller, der, bevor er sich hechelnd auf die letzten Meter seiner eindimensionalen Polemik begab, tausende Wörter auf die Verwechslung der 68er mit linker Kritik anno 2016 verschwendet hatte? Und das ist dann tatsächlich „einfach nur falsch“ und „reaktionär“ und kann zu „sehr gegenwärtigen Katastrophen“ führen. Denn was nun eigentlich Billers Pläne sind, damit das „Goldene Zeitalter“ Europas noch ein bisschen länger andauert, wie also zu verfahren sei mit den Flüchtlingen, mit Putin, Erdoğan und den rechten Populisten, darüber erfährt der Leser erwartungsgemäß gar nichts.
Es knallt halt nicht so laut, wenn Analysen den Vorzug vor künstlich herbeigeführten Konfrontationen erhalten; und die leisen Töne gehörten ohnehin noch nie zu Billers Repertoire. Ein vor mehr als sechzehn Jahren vom Literaturkritiker Uwe Wittstock gefälltes Urteil erfasst uneingeschränkt auch den Biller der Gegenwart: „Menschen, die andere Ansichten vertreten als er, sind in seinen Augen nicht anderer Ansicht, sondern „Idioten“. Menschen, die ihre Überzeugungen behutsam formulieren, die ihre Bedenken zurückhaltend vorbringen, sind für ihn „Feiglinge“ oder „Schlappschwänze“. Was immer seinen Unmut weckt – es stört oder ärgert ihn nicht einfach, sondern erregt seinen Hass. Der Gedanke, auch die eigene Ansicht könnte falsch sein, auch die eigene Beweisführung könnte durch Überspitzung fehlgehen, hat ihn augenscheinlich noch nicht berührt.“ Für Biller gibt es keine halben, sondern nur ganze Wahrheiten und die sind immer bei ihm. Intellektuelle Bescheidenheit, die einen Austausch erst ermöglicht, ist ihm fremd; er setzt lieber auf den großspurigen Auftritt, die Vernichtung des Gegners, ohne sich je mit ihm auseinandergesetzt zu haben. Polemik spitzt bei ihm nicht die Argumente an, sie wird genutzt, um zu beleidigen. Auf der Grabplatte der Debatte setzt er dann zum Siegestanz an – es ging ihm nicht um die Sache, nicht um Ideale, auch nicht um seine Mitmenschen, sondern nur um sich.