Sofern ihm denn Aufnahme gewährt wurde, hat Muhammad Ali seine Himmelfahrt gerade hinter sich. Glaubt man stern-Redakteurin Ulrike Posche, so würde sich durch den Einzug in die Dschanna für Ali allerdings nicht allzu viel ändern; ihr Nachruf bastelt an einem Bild des Boxers, das bereits sein Dasein auf Erden in die Nähe des Göttlichen rückt. Als Liebling der Unsterblichen wird er gepriesen, in den während seiner Kämpfe „das Leben wie ein Blitz (…) [einschlug]. Als wäre Gott plötzlich in ihn gefahren, oder Allah“ (Posche, Der Göttliche, in: stern 24 (2016), S. 60). Wenn einmal von der Abnutzung der bemühten Bilder abgesehen wird, so stört nicht zuerst (wie Posche selber vermutet) das Blasphemische an ihrem Götzendienst, sondern dessen inhaltliche Dürftigkeit.
Neben der rhetorischen Gigantomie, der ausufernden Suche nach dem Superlativ des Superlativs, würdigt die stern-Journalistin die wirklich großen Leistungen Alis nur am Rande. Es soll Grabplatten geben, die mehr über einen Toten verraten als Posches Nachruf. Anstatt Alis politische Haltung herauszustellen, seinen aufrechten Gang in Zeiten, da die Schwarzen in den Vereinigten Staaten sich noch der Willkür der weißen Herrenmenschen beugen mussten, verliert sie sich in Kleinmädchenschwärmereien. So preist sie Alis makellose Haut, seine elegante Erscheinung und überhaupt den Sex-Appeal, den dieser in den Boxring gebracht habe. Sie weiß zu berichten, dass der „Jahrhundertmensch“ ein „Damenmann“ und „Mädchenschwarm“ gewesen sei, von dem Poster in der Bravo erschienen – alles richtig, alles nichtig. Schließlich wird das Anhimmeln noch mit einer erstklassigen Quelle unterlegt: Ilse H., eine Verwaltungsangestellte aus Düsseldorf, habe seinerzeit beim Kaffeeklatsch mit ihren Freundinnen immer gerufen, was Ali doch für ein bildschöner Neger sei. Muss man Posche nun vorwerfen oder ihr dankbar sein, dass sie nicht noch Hilde K. aus Hamburg, Irmtraud G. aus Köln oder Elfriede Z. aus Niederbayern aufgetrieben hat, um ähnlich gehaltvolle Zitate zu bekommen – über Alis stets adrette Frisur, seinen bezaubernden Augenaufschlag oder sein wohlgeformtes Hinterteil?
All dies kann ja gerne erwähnt werden – in wenigen Sätzen, anstatt die Hälfte des Artikels in Beschlag zu nehmen, sodass ein Nachrichtenmagazin zum Groschenroman mutiert. Derart oberflächliche Bewunderungen schütten simpler gestrickte Damenherzen auch über dem Kirmesboxer von nebenan aus, der Ali (so weit bringt es auch Posche) gewiss nicht war. Was ihn einzigartig machte, war seine boxerische Klasse, gepaart mit seinem politischen Wirken und einem überbordenden Selbstbewusstsein, für das jede Arena dieser Welt zu klein war. Ali hatte die größte Fresse von allen, eine himmelschreiende Arroganz war ihm eigen; nie jedoch ist er ein Schaumschläger gewesen. Schlagkraft und Beinarbeit waren ähnlich gut entwickelt wie Kopf und Sprache; den verbalen Knockouts vor den Kämpfen folgten zumeist die Niederschläge im Ring.
Doch ausgerechnet sein hervorragendes rhetorisches Rüstzeug bedingt eine Ambivalenz in Alis Vermächtnis. Auf der einen Seite steht die große Leistung, sich eine Stimme erkämpft zu haben, als Schwarze nichts zu melden hatten. Ali hat sich nie zur Belustigung weißer Herrschaften die Birne wundkloppen lassen; er hatte sich eine Identität errichtet, die für ein solches Dasein als Uncle Tom keinen Platz ließ. Der aufrechte Gang forderte allerdings seinen Preis: Als Ali Ende der 60er Jahre in den Vietnamkrieg geschickt werden sollte, verweigerte er den Kriegsdienst. Er verkündete, ihn habe noch kein Vietcong Nigger genannt und er habe nicht vor, sich an Verwüstung und Mord in einem fernen Land zu beteiligen. Diese Haltung, sein Eintreten gegen Krieg und Rassismus kosteten Ali seine Weltmeistertitel und viel Geld. Er wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, die er jedoch nicht absitzen musste. Am schwersten aber wog wohl das verhängte Berufsverbot – Ali durfte mehrere Jahre nicht boxen. Er zeigte Rückgrat und musste einiges auf selbigem schultern. Trotz der zahlreichen persönlichen Nachteile knickte er nicht ein.
An dieser Konsequenz bemisst sich Alis Größe; sie macht ihn zu einem außergewöhnlichen Sportler. Dass dies heute zur Heldenverehrung beiträgt, mitunter gar in eine Apotheose à la Posche mündet, zeigt lediglich wie sehr solche Figuren – insbesondere im Sport – gegenwärtig fehlen und wie groß zugleich die Sehnsucht der Menschen nach aufrechten und engagierten Sportlern ist. Als die Schwarzen in den Armenvierteln von Louisville, Kentucky, beim Trauerzug am vergangenen Freitag die Straßen säumten, beweinten sie nicht den Ali Shuffle, auch nicht den Phantom Punch oder die legendären Ringschlachten Alis; sie beweinten, dass ihnen eine ihrer Stimmen genommen wurde – und zwar in einer Zeit, da diese so sehr gebraucht wird wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Ein Nachfolger ist nicht in Sicht: Wenn es um politische Haltungen geht, ist nahezu der gesamte Sport zu einem wüsten Ödland verkommen – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Ali wirkt auch deshalb so groß, weil nur noch Zwerge erblickt werden können, wenn es um das Wirken außerhalb der Spielfelder und Arenen geht. Es mutet geradezu lächerlich an, sich vorzustellen, wie sich etwa der Egozentriker Christiano Ronaldo mit den Armen in seinem Land solidarisiert oder Lionel Messi, den kaum jemand je mehr als drei Sätze hat sprechen hören, zu den politischen Wirren in Argentinien Stellung nimmt. Größeres Engagement kann von ihnen gar nicht eingefordert werden, weil neben der notwendigen Haltung wohl auch der Verstand für derartige Einmischungen fehlt.
Dabei geht es nicht um schwer durchschaubare Detailfragen: Niemand erwartet von Sportlern einen Kommentar zur neuesten Steuerreform oder der Aufteilung des Staatshaushaltes. Es geht um ganz einfache Fragen, die eigentlich nur eine Antwort zulassen: Sollen alle Menschen genug zu essen und ein Dach über dem Kopf haben? Sollen alle Menschen die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu äußern? Sollen alle Menschen frei von Unterdrückung und Ausbeutung leben können? Hierfür braucht es klare Positionierungen, die dem Geschäftlichen nicht untergeordnet werden dürfen. Nach ihnen muss gehandelt werden anstatt die tausendste Stiftung ins Leben zu rufen, die als Trostpflaster auf pulsierende Wunden geklebt wird. Gespendet wird seit Jahrzehnten und trotzdem (oder vielleicht auch gerade deshalb) wendet sich nichts zum Besseren.
Wunderdinge können von engagierten Sportlern sicherlich nicht erwartet werden, doch sehr wohl kann ein Signal von ihnen ausgehen. Anstatt jedoch gegen Schlechtes anzugehen, klüngelt der Sport lieber mit ihm: Unter den Fußballspielern gehobener Klasse ist es längst Usus geworden den Karriereabend in den Golfstaaten ausklingen zu lassen, wo die Diktatoren mit ihren Petro-Dollars die Länder durchregieren. Viele Bundesligisten, unter anderem der FC Bayern München und Borussia Dortmund halten in Katar und in Dubai ihre Wintertrainingslager ab. Es gäbe einiges zu monieren, doch außer pflichtschuldigen Statements, dass man natürlich für Demokratie und Menschenrechte einstehe (während man sich zugleich zum Aushängeschild der Herrscherfamilien degradieren lässt), kommt von den Vereinen nichts. Es ist ein Armutszeugnis, das auch anderen Sportarten ausgestellt werden könnte.
Den Funktionären ist dieser Status Quo nur recht, schließlich lassen sich mit Diktatoren die besten Geschäfte machen – die Abwicklung erfolgt auf dem kurzen Dienstweg und die eine oder andere Million für einen selber kann auch leichter abgezwackt werden. Derweil ist die Verteidigungsstrategie bei lästigen Nachfragen immer dieselbe: Isolation bringe doch auch nichts, Sport verbinde, könne Impulse geben für gesellschaftliche Öffnungen. Dagegen steht: Nichts ist besser geworden, nicht in China (Olympia 2008), nicht in Russland (Olympia 2014), nicht in Südafrika (Fußball-WM 2010) und auch nicht in Brasilien (Fußball-WM 2014).
Es sind Übel, deren Motor das Geld ist. Die Einrichtung des Sports als Krämerladen hat vor allem zum Ausverkauf aller ethischen Werte geführt. An diesem Punkt nun zeigt sich die zweite Seite der erwähnten Ambivalenz, die Alis Vermächtnis ausmacht. Denn auch er ließ sich von Diktatoren vereinnahmen, etwa beim „Rumble in the Jungle“, der letztlich nichts anderes war als eine Privatveranstaltung von Mobutu Sese Seko, seinerzeit Alleinherrscher über Zaire. Was dieser an Grausamkeiten und Elend über sein Land brachte (auch mithilfe der Vereinigten Staaten), lässt den Rassismus in den USA als kleines Übel erscheinen. Da wird der Heilige und Göttersohn, zu dem Ulrike Posche Ali ausruft, plötzlich ganz menschlich.
Der schnelle Dollar verführt jedoch nicht nur zur Aufgabe der eigenen Haltung, sondern auch dazu, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. So ließ sich Ali Mitte der 70er Jahre in einem Schaukampf von einem japanischen Wrestler fünfzehn Runden lang die Schienbeine blutig treten. Sein Kontrahent verbrachte den Kampf größtenteils auf dem Rücken liegend in der Ringmitte, um keine Angriffsfläche zu liefern. Warum, wenn nichts fürs Geld, sollte in solche Kaspereien eingewilligt werden?
Dies nicht nur im Ring, sondern auch daneben. Mit Ali war ständiges Theater vorprogrammiert – auf Pressekonferenzen, in TV-Studios, beim Wiegen. Stets in der Hauptrolle: er selber als unübertroffenes Großmaul. Hier ein Mätzchen für die Kameras, dort eine Beleidigung für den Gegner – Ali machte (wie Posche richtig anmerkt) den Sport zum Entertainment und sich selber zur Marke. So unterhaltsam dies bei einer Persönlichkeit wie Ali sein kann, die PR-Stunts werden schlicht peinlich, wenn den Boxern Charisma, Intelligenz und sportliche Klasse abgehen.
Genau dies ist im gegenwärtigen Schwergewicht eingetreten: Man denke etwa an Shannon Briggs, der immer wieder bei öffentlichen Auftritten Wladimir Klitschkos aufkreuzt, sich stante pede die Kleider vom Leib reißt und irr herumblökt, er sei der Größte überhaupt und wolle nun endlich einen Kampf gegen den (ehemaligen) Weltmeister bekommen. Zur Erinnerung: Der ungelenk-asthmatische Zöpfchenträger Briggs wurde von Vitali Klitschko einst so übel zugerichtet, dass im Universitätsklinikum Hamburg gleich eine ganze Horde Ärzte gebraucht wurde, um ihn wieder zusammenzuflicken. Ähnlich erging es David Haye, der vor seinem Kampf gegen Wladimir mit einigen Geschmacklosigkeiten aufgefallen war. So ließ er unter anderem eine Fotomontage verbreiten, die ihn mit den abgetrennten Köpfen der Klitschkos zeigte. Im Ring wurde auch er als Luftnummer entlarvt. Den neuesten Part im Trash-Programm des Schwergewichts hat der derzeitige Weltmeister Tyson Fury eingenommen: Dieser versucht seinem Aufmerksamkeitsdefizit immer wieder mit homophoben und antisemitischen Äußerungen beizukommen. Es gelingt hervorragend – die Beziehung zu den Medien ist eine symbiotische: Mit den vermeintlichen Skandalen lassen sich Auflagen und Klickzahlen erhöhen, während der Boxer Werbung für seinen nächsten Kampf bekommt. Derweil steht Alis Vermächtnis auf dem Kopf: Jemand wie Fury engagiert sich nicht für mehr Toleranz, sondern forciert die Ausgrenzung von Minderheiten.
Es ist nicht nur die Erbärmlichkeit der genannten Ausfälle, die stört, sondern auch ihr offensichtlicher Inszenierungscharakter sowie die Tatsache, dass ihnen durchweg schlechte bis durchschnittliche Kämpfe folgen. Das gegenwärtige Schwergewicht ist ein Jammertal. Zu dieser Erkenntnis bringt es sogar Ulrike Posche in ihrer Ali-Schwärmerei. So ist dem Besten aller Zeiten nicht nur zu wünschen, dass der stern im Paradies nicht erscheint; auch Kabelfernsehen sollte es nach Möglichkeit nicht geben.