Fußballspiele mit deutscher Beteiligung bei Welt- und Europameisterschaften sind wohl die letzten großen Straßenfeger hierzulande. Entsprechend viele Menschen dürften auch den Nachrichten in der Halbzeitpause folgen. Umso verheerender, wenn diese mit einer Fehlinformation eingeleitet werden. So geschehen im Heute-Journal, das am Donnerstag vergangener Woche während der Partie Deutschland-Frankreich ausgestrahlt wurde. Einen Bericht über die Reform des Sexualstrafrechts moderierte Marietta Slomka mit folgenden Sätzen an: „Künftig gilt: Nein heißt nein. Auch wenn das Opfer sich aus Angst nicht wehrt, die Tat geschehen lässt, bleibt es eine Vergewaltigung.“ Dass die beschriebenen Umstände auch mit dem alten Gesetz als Vergewaltigung abgeurteilt werden konnten, ist Moderatorin und Redaktion wohl entgangen. Was im Bundestag, der die Reform einstimmig auf den Weg brachte, als historischer Schritt begangen wurde, ist keiner. Entgegen dem griffigen Slogan („Nein heißt nein“) ist nicht für mehr, sondern für weniger Klarheit gesorgt worden. Weiterlesen
Möge im Paradies der „stern“ nicht erscheinen
Sofern ihm denn Aufnahme gewährt wurde, hat Muhammad Ali seine Himmelfahrt gerade hinter sich. Glaubt man stern-Redakteurin Ulrike Posche, so würde sich durch den Einzug in die Dschanna für Ali allerdings nicht allzu viel ändern; ihr Nachruf bastelt an einem Bild des Boxers, das bereits sein Dasein auf Erden in die Nähe des Göttlichen rückt. Als Liebling der Unsterblichen wird er gepriesen, in den während seiner Kämpfe „das Leben wie ein Blitz (…) [einschlug]. Als wäre Gott plötzlich in ihn gefahren, oder Allah“ (Posche, Der Göttliche, in: stern 24 (2016), S. 60). Wenn einmal von der Abnutzung der bemühten Bilder abgesehen wird, so stört nicht zuerst (wie Posche selber vermutet) das Blasphemische an ihrem Götzendienst, sondern dessen inhaltliche Dürftigkeit. Weiterlesen
In der Kinderstube des amerikanischen Traumes
Die Geißelung des Wohlstandsversprechens amerikanischer Prägung ist an dieser Stelle bereits mehrfach en passant vorgenommen worden – auf einer (filmischen) Autofahrt durch Houston und in der Auseinandersetzung mit sozialdemokratischer Politik. Seiner Verlogenheit, nicht seiner historischen Etablierung, galt in den jeweiligen Texten die Aufmerksamkeit. Für die Verankerung des amerikanischen Traumes im kollektiven Bewusstsein der USA spielt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. In dieser Zeit gewinnen sowohl sein Substrat, der Individualismus (in einer radikalen Ausprägung), als auch seine Substanz, das Versprechen, durch das eigene Wirken ein Leben in Wohlstand führen zu können, an Konturen. Weiterlesen
Konsumentenansprache in der Werbung – gestern und heute
„Ich will nicht die Schrotflinte. Ich will den Sniper“ – kein General spricht hier über seine Truppen, sondern der Unternehmer Samy Liechti über Werbemöglichkeiten in Zeiten von Big Data. Das Martialische der Wortwahl kommt nicht von ungefähr: Der Kunde ist nicht zuerst König, sondern der gesättigte Feind des Wirtschaftswachstums, dem Dinge angedreht werden müssen, die er eigentlich nicht benötigt. Stets muss er im Visier gehalten werden, sodass im richtigen Moment zum zielgenauen Abschuss angesetzt werden kann. Dies ist Aufgabe der Werbung, die in der neuen Datenfülle ihr Himmelreich entdeckt hat. Noch ist sie kaum durch dessen Pforten getreten, da ist die grundsätzliche Entwicklung bereits absehbar: Die kollektive Konsumentenansprache weicht der individuellen. Weiterlesen
Eine Partei ohne Resonanzboden
Die Schussfahrt geht weiter – allmonatlich gelingt der SPD das Kunststück ihre historisch niedrigen Umfragewerte noch weiter zu unterbieten. Es regiert die Ratlosigkeit rund ums Willy-Brandt-Haus; und tatsächlich ist es ein Rätsel, warum in einer Zeit, da einige Wenige den Kuchen verteilen, während sich der große Rest um die Krümel streiten darf, da die Wirtschaft sich der Unmoral noch hingebungsvoller verschrieben hat als vor der Krise von 2008, da der Steuerbetrug gleich millionenfach ans Tageslicht kommt – warum in einer solchen Zeit, eine Partei, der das Thema Gerechtigkeit ins Erbgut eingeschrieben ist, sich nicht stärker profilieren kann. Weiterlesen
Eine konturlose Welt – Über den sowjetischen Totalitarismus
Die Revolution, ja jeder kleine Aufruhr ruft zunächst „Freiheit“, womit zuvorderst die „Befreiung“ von bestimmten Zuständen oder Personen gemeint ist (Isaiah Berlin). Stellen sich Erfolge ein, so ist die Freiheit vollkommen exponiert und ungeschützt – sie kann einem leicht wieder genommen werden. Uneingeschränkte Freiheit kann auch eine Bürde sein; sie zu delegieren, es sich bequem zu machen, erscheint manch einem dann verführerisch; vielleicht wächst vereinzelt gar die Sehnsucht nach einer starken Hand. In Russland bedienten 1917 die Bolschewisten diese Sehnsucht und sie packten derart fest und geschickt zu, dass es quasi über Nacht zu einem ‚Einfrieren‘ der Zustände kam: Aus einer Möglichkeit unter vielen wurde ihr Weg zum einzig gangbaren. Weiterlesen
Gebrochene Herzen und zerstückelte Körper
Bei der Beantwortung der Frage, was die Gesellschaft zusammenhalten sollte, wird gerne von demokratischen oder religiösen Idealen gesprochen (Nächstenliebe, Menschenwürde etc.). In seinem Roman „Der goldene Handschuh“ beschreibt Heinz Strunk einen gesellschaftlichen Kitt, der weit entfernt ist von solchen positiven Leitbildern. Es sind Herrschaft, Macht und das Ausüben von Gewalt zwischen den Geschlechtern, die hier die unterschiedlichen sozialen Milieus und Schichten miteinander verbinden – dies in einer dreifachen Abstufung. Weiterlesen
Patrioten aus Verzweiflung
„Ich glaube, die Liebe zu einem Land, auch der Patriotismus, ist unsere Antwort auf die Verzweiflung, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein“ (Bernward Vesper, Die Reise. Romanessay, Reinbek 1989, S. 34-35). Die Menschen verfallen der Vaterlandsliebe aus Verzweiflung über die Geburtslotterie und ihre Konsequenzen – gerne möchten sie jemand anderes sein, sich neu erfinden, einen Anfang ohne Vergangenheit setzen, doch der Herkunft ist nicht zu entkommen. Und weil dies so ist, verfallen sie irgendwann darauf, sich das eigene Schicksal zumindest mit wehenden Fahnen und Deutschlandlied zu versüßen. Weiterlesen
Verbarrikadiert in der Echokammer
Steile Thesen sind eine dankbare Einrichtung, bieten sie doch große Angriffsflächen. Derart exponiert hat sich vor einigen Jahren der französische Literaturwissenschaftler Pierre Bayard: Ausgerechnet (oder konsequenterweise) der professionelle Leser behauptet, es sei nicht notwendig, Bücher gelesen zu haben, um über sie zu sprechen – mitunter sei die Lektüre gar schädlich für die Kommunikation. Bildung bestehe vielmehr darin, Texte einordnen zu können, anstatt sich in ihren Details zu verlieren. Dass sich hierfür allerdings ein Überblick angeeignet werden muss, dass es zudem Texte gibt, die Erwartungshaltungen hintergehen, dass schließlich über das bloße Einordnen geschlossene gesellschaftliche Räume (Echokammern) entstehen können, in denen Ideologisches am lautesten tönt – all dies flackert bei Bayard nur am Rande auf. Ein Beispiel für eine solche Kakophonie in der geschlossenen Echokammer liefert die (Nicht)Lektüre des Werks von Ernst Bloch durch Joachim Fest. Weiterlesen
Auf dem (guten) Sonderweg
Das geschichtliche Fahrtenbuch der Deutschen weist Konformität gewiss nicht im Übermaß aus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte man sich lieber ab von den Entwicklungen der europäischen Nachbarn. Der deutsche Sonderweg führte zumeist in eine Sackgasse; das Leid, das er im eigenen Land und in der Welt hinterließ, ist beispiellos. Momentan ist man wieder auf einsamen Pfaden unterwegs, diesmal jedoch ausnahmsweise im Positiven. Anders als in der Vergangenheit schlägt den Nachbarn keine Verachtung entgegen, sondern es wird der Appell vorgebracht, einen gemeinsamen Weg bei der Bewältigung der Flüchtlingskatastrophe einzuschlagen. Dieses Vorhaben wird außen- und innenpolitisch torpediert – der Sonderweg ins Unglück, einst eine deutsche Spezialität, droht schleichend zum europäischen Konsens zu werden. Weiterlesen