Die folgenden Verse fand ich durch Zufall am Samstag der vergangenen Woche im Ausleihzentrum der Stabi Hamburg. Sie waren auf einem einfach gefalteten Din A4-Zettel notiert, der zwischen zwei Büchern herausragte – ein bisschen so, als sollte der Text gefunden werden. Auf der Rückseite sind zwei Seiten eines sprachwissenschaftlichen Aufsatzes über „Einstellungen zu Sprachen und Kodes in der Ukraine“ fotokopiert (von Gerd Hentschel und Jan Patrick Zeller, Zeitschrift für Slawistik, 64 (4), 2016). Der Text ist mit nur wenigen Ausbesserungen versehen (einzelne Wörter sind gestrichen und ersetzt worden), sodass er bei der Niederschrift quasi fertig gewesen sein muss.
Über Formales lässt sich streiten, wichtiger ist hier (m.E.) der Inhalt – das Gedicht hat eine klare Botschaft, die angesichts der jüngsten Ereignisse in Syrien und Stockholm kaum aktueller sein könnte (und wohl leider sobald auch nicht an Aktualität verlieren wird). Ich habe eine Weile gezögert, das Gedicht online zu stellen. Schließlich entschied ich mich dafür, nicht zuletzt weil sich unterhalb des Texts ein dreifacher Imperativ findet („Verbreiten! Verbreiten! Verbreiten!“). In der Hoffnung im Sinne des anonymen Autors möglichst viele Nachahmer zu finden:
Syrien, Irak, Libyen, Afghanistan, Ukraine…
Den Finger am Abzug immer voran
rollt der Trupp durchs karge Gelände.
Alle noch da, bis zum letzten Mann –
niemandem zittern die Hände.
Da zerreißt es jäh die Stille
in zehntausend winzige Fetzen.
Und nirgends flackert der Wille,
dem Horror ein Ende zu setzen.
Viele verletzt, einer zerlegt
ins Einzel der Anatomie.
Was sich eben noch als Mensch bewegt,
geschlachtet wie räudiges Vieh.
Manche hören – wie weit es auch sei,
über Berge, Flüsse und Städte,
des Feindes schrillen Siegesschrei.
Wenn nur einer die Chance hätte:
Vom unendlichen Zorn getragen,
Rache walten zu lassen.
Ich will es euch nicht sagen,
ihr würdet es doch nicht fassen:
Was der deformierte Geist,
zu ersinnen imstande ist,
übersteigt doch allermeist,
was ihr Menschen vom Menschen wisst.
Nur bei wenigen geht‘s umher:
Was soll das ewige Morden?
Auf jenen lastet’s zentnerschwer,
was ist aus den Kämpfern geworden?
„Doch reißt euch zusammen, ihr Spinner!“,
herrschen die Oberen sie an.
Willkommen im Krieg – ohne Gewinner,
Morden bis zum letzten Mann.
Wahrlich es ist ein altes Lied:
Die Depots sind gefüllt mit Waffen.
Es ist gewiss noch viel Profit,
auch Platz auf dem Friedhof zu schaffen.
Wen schert das Leid der Millionen?
Verwahrt wird sich jeder Kritik.
Der Krieg, er muss sich lohnen –
das nennt sich Realpolitik.
Beflaggt kehrt der Tote heim,
betrauert von Automaten.
Hier lebt der hässliche Schein
in den Visagen der Potentaten.
Den Finger am Abzug ängstlich voran
schleicht der Trupp durchs karge Gelände.
Alle da, bis auf einen Mann –
jedem zittern die Hände.