Geschichte wiederholt sich nicht, niemals. Doch strukturelle Ähnlichkeiten gibt es sehr wohl, sodass der Hegel’sche Satz, das Einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass noch nie etwas aus ihr gelernt wurde, nicht zwangsläufig wahr sein (oder: bleiben) muss. Ohne mit einem neuen konfrontiert zu sein, lassen sich etwa in Sachen diplomatischer Entspannung sicherlich Lehren aus dem (alten) Kalten Krieg ziehen; ohne aus einem Zuckerberg einen Rockefeller zu machen, lohnt in der Frage, wie mit allzu mächtigen Unternehmen umzugehen sei, bestimmt auch ein Blick auf die vorletzte Jahrhundertwende; ohne schließlich Nazi zu sagen und die AfD samt Anhänger zu meinen, kann auch der Rückblick auf die 20er und 30er Jahre, auf den Aufstieg der Rechten und die Schwäche der Linken, erhellend für die Gegenwart sein. Weiterlesen
Die Idylle Europa
Viele Menschen wollen sich im Anderen gespiegelt sehen; am nächsten ist ihnen, was Ähnlichkeit aufweist. Vermeintlich idyllisch geht es zu, wo einen Vertrautes umgibt, Veränderungen – wenn überhaupt – nur berechenbar eintreten. Das Fremde bricht in ein solches Idyll als Verunsicherung ein, es macht zementiert Geglaubtes porös. Deshalb hat bisher noch jede Idylle eine kaum passierbare Grenze umgeben – so auch die Idylle Europa, die als Zerrbild rechtskonservativer Politik heute lebendiger denn je ist. Weiterlesen
Zwischen Liebe und Vertrag japst die Solidarität
Wenn es um Flüchtlinge geht, beherrschen die Ausfransungen des Meinungsspektrums die Debatte. Unfähig zum Austausch stehen die Extreme einander gegenüber und vergiften mit ihrem Anspruch auf eine uneingeschränkte Deutungshoheit die Auseinandersetzung. Es werden absolute Bekenntnisse eingefordert: Offene Grenzen oder Zäune und Schlagbäume. Jeder Versuch der Differenzierung wird vom Zeitgeist des Absoluten weggebissen. Lehnt sich ein Argument auch nur sachte in die eine oder andere Richtung, so wird es vom Extrem vereinnahmt, sein Vertreter fortan mit diesem identifiziert. So geschieht es in den Parteien, so findet es dank bürgerlichen Nachahmungstriebs online seine Fortsetzung. Dem Wesen der Solidarität, die eine funktionierende Asylpolitik tragen muss, setzt eine Debatte in und mit Extremen zu. Ist sie, die Solidarität, doch in einem ‚Zwischen‘ angesiedelt, so erklärt es der Soziologe Karl Otto Hondrich – und zwar zwischen der Liebe und dem Vertrag. Weiterlesen
Maxim Biller und die intellektuelle Bescheidenheit
Der Titel dieses Blogs mag zunächst einen fahlen Beigeschmack haben; vielleicht auch dann noch, wenn seine Erläuterung vernommen wurde: Warum sich annähern, anstatt nach letzten Gewissheiten zu suchen? Da kann es nicht schaden, einmal einen Blick auf das Negativ, auf all jene Dinge, die an dieser Stelle keinen Platz finden sollen, zu werfen. Einer der Krawallbrüder des deutschen Feuilletons, Maxim Biller, lieferte für diesen Zweck unlängst ein brauchbares Beispiel in der ZEIT: seitenweise vor Ekel hervorgewürgte Tiraden, Simplifizierungen und unverschämte Vergleiche, adressiert an die politische Linke vergangener und gegenwärtiger Zeiten. Biller verkündet seine Letztwahrheiten mit einem Furor, der für Gegenstimmen, für das Abwägen von Argumenten, keinerlei Platz lässt. Dass ein solches Vorgehen wider jede intellektuelle Bescheidenheit seit Jahrzehnten seine Masche ist, um Aufmerksamkeit zu generieren, macht es nicht besser. Weiterlesen
Patrioten aus Verzweiflung
„Ich glaube, die Liebe zu einem Land, auch der Patriotismus, ist unsere Antwort auf die Verzweiflung, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren worden zu sein“ (Bernward Vesper, Die Reise. Romanessay, Reinbek 1989, S. 34-35). Die Menschen verfallen der Vaterlandsliebe aus Verzweiflung über die Geburtslotterie und ihre Konsequenzen – gerne möchten sie jemand anderes sein, sich neu erfinden, einen Anfang ohne Vergangenheit setzen, doch der Herkunft ist nicht zu entkommen. Und weil dies so ist, verfallen sie irgendwann darauf, sich das eigene Schicksal zumindest mit wehenden Fahnen und Deutschlandlied zu versüßen. Weiterlesen
Auf dem (guten) Sonderweg
Das geschichtliche Fahrtenbuch der Deutschen weist Konformität gewiss nicht im Übermaß aus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte man sich lieber ab von den Entwicklungen der europäischen Nachbarn. Der deutsche Sonderweg führte zumeist in eine Sackgasse; das Leid, das er im eigenen Land und in der Welt hinterließ, ist beispiellos. Momentan ist man wieder auf einsamen Pfaden unterwegs, diesmal jedoch ausnahmsweise im Positiven. Anders als in der Vergangenheit schlägt den Nachbarn keine Verachtung entgegen, sondern es wird der Appell vorgebracht, einen gemeinsamen Weg bei der Bewältigung der Flüchtlingskatastrophe einzuschlagen. Dieses Vorhaben wird außen- und innenpolitisch torpediert – der Sonderweg ins Unglück, einst eine deutsche Spezialität, droht schleichend zum europäischen Konsens zu werden. Weiterlesen
Die Kamele sind tot – Staatswerdung im Orient
Wenn gegenwärtig im Nahen Osten, in Vorder- und Zentralasien Krieg und Terror den Alltag beherrschen, die Menschen deshalb flüchten müssen, wird eine wesentliche historische Ursache allenfalls am Rande erwähnt: Als die europäischen Staaten ihre kolonialen Abenteuer beendeten (oder beenden mussten), versündigten sie sich ein letztes Mal an ihren Untergebenen, indem sie willkürlich Staatsgrenzen festlegten – Grenzen, um die die Einheimischen nicht gebeten hatten, die auf Familien- und Stammesverbände keine Rücksicht nahmen, die letztlich einzig in die Welt der abziehenden Kolonialherren passten. Was offiziell als Unabhängigkeit daherkam, war mit einem Ballast beschwert, der eine gesamte Weltregion ins Verderben reißen sollte. Weiterlesen
Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (II)
Wörter kennen Temperaturunterschiede – gemessen nicht in Grad, sondern an den Emotionen, die sie begleiten. Es gibt kühle Wörter, die Nüchternheit und Distanz zum Ausdruck bringen, die auch von Moral-Debatten möglichst großen Abstand halten wollen. Das Wort „Kredit“ zählt zu diesen Wörtern. Und es gibt warme Wörter, die vom Gefühl der Nähe und Geborgenheit, vom Heimeligen begleitet werden. Zu diesen Wörtern zählt die „Hilfe“. Weiterlesen
Gefährliche Teekesselchen und andere Übel (I)
Langlebige Sätze waren schon immer selten; sie sind es gegenwärtig umso mehr, als sie unter der Masse von dahin geschleuderten Texten zu leiden haben. Nach Sätzen, die Jahrhunderte überdauern können, die ihre Verfasser lange überleben, sucht und fragt in Zeiten von minütlichen Wasserstandsmeldungen und sich gegenseitig übertreffenden Dramatisierungen kaum mehr jemand. Die Resultate des Denkens folgen der Taktung, mit der die Weltereignisse mittlerweile auf die Menschen eindringen – sie werden kurzlebig. Weiterlesen
Die ewige Krise
Ihrer Etymologie nach bezeichnet die Krise den Moment, da eine Entwicklung eine andere Richtung einnimmt, in der sie umschlägt (griech. „κρίνειν“: scheiden, trennen, auswählen, entscheiden). Die Krise führt eine Entscheidung herbei, bietet allerdings noch Möglichkeiten zur Intervention. Ihr kommt eine Latenz zu, die in der Gegenwart eine gestaltbare Zukunft aufscheinen lässt: Die Entscheidung ist fällig, aber noch nicht gefallen. Den Krisen der Gegenwart, die zumeist als gefährliche, als düster ausgemalte Abgründe wahrgenommen werden, ist der Charakter einer Momentaufnahme im Schwebezustand abhanden gekommen Weiterlesen