Kurz vor dem Dekabristenaufstand von 1825, einem Aufruhr einiger Adliger mit dem Ziel ein wenig republikanischen Einschlag in den Zarismus zu bringen, spülte es Nikolaus I. auf den russischen Thron – einen unsicheren, kleinlichen, immerzu argwöhnenden, intellektuell ganz und gar mittelmäßigen Menschen, der um seine Makel wusste und andere um ihre Talente beneidete. Nikolaus schloss den Griff ganz fest um Russland, ließ die Aufständischen hinrichten oder verbannte sie nach Sibirien, verschärfte die Zensur und richtete einen vieläugigen Spitzelapparat ein. Weiterlesen
Maxim Biller und die intellektuelle Bescheidenheit
Der Titel dieses Blogs mag zunächst einen fahlen Beigeschmack haben; vielleicht auch dann noch, wenn seine Erläuterung vernommen wurde: Warum sich annähern, anstatt nach letzten Gewissheiten zu suchen? Da kann es nicht schaden, einmal einen Blick auf das Negativ, auf all jene Dinge, die an dieser Stelle keinen Platz finden sollen, zu werfen. Einer der Krawallbrüder des deutschen Feuilletons, Maxim Biller, lieferte für diesen Zweck unlängst ein brauchbares Beispiel in der ZEIT: seitenweise vor Ekel hervorgewürgte Tiraden, Simplifizierungen und unverschämte Vergleiche, adressiert an die politische Linke vergangener und gegenwärtiger Zeiten. Biller verkündet seine Letztwahrheiten mit einem Furor, der für Gegenstimmen, für das Abwägen von Argumenten, keinerlei Platz lässt. Dass ein solches Vorgehen wider jede intellektuelle Bescheidenheit seit Jahrzehnten seine Masche ist, um Aufmerksamkeit zu generieren, macht es nicht besser. Weiterlesen
Mahnungen von gestern – Über Weltbürger und Feindbilder
Wenn Probleme offensichtlich werden, folgt gerne der Blick in die Vergangenheit, um die Mahner von gestern ausfindig zu machen. Die Suche nach denjenigen, deren Analysen und Prognosen sich als korrekt erwiesen haben, kann als Nebensächlichkeit oder bloße Chronistenpflicht abgetan werden; sie zeigt jedoch, bei wem sich das Zuhören lohnt, wer eine ungetrübte Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen hat. Zu diesen Personen zählte (mitunter) auch der mittlerweile verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2001 erschienenen Essayband „Der neue Mensch“ stechen zwei Kapitel hervor, die auch für die Lage im Jahr 2016 noch erhellend sind. Sie handeln von Trugbildern – dem des deutschen Weltbürgers sowie dessen Umzingelung von Freunden. Weiterlesen
Die ewige Krise
Ihrer Etymologie nach bezeichnet die Krise den Moment, da eine Entwicklung eine andere Richtung einnimmt, in der sie umschlägt (griech. „κρίνειν“: scheiden, trennen, auswählen, entscheiden). Die Krise führt eine Entscheidung herbei, bietet allerdings noch Möglichkeiten zur Intervention. Ihr kommt eine Latenz zu, die in der Gegenwart eine gestaltbare Zukunft aufscheinen lässt: Die Entscheidung ist fällig, aber noch nicht gefallen. Den Krisen der Gegenwart, die zumeist als gefährliche, als düster ausgemalte Abgründe wahrgenommen werden, ist der Charakter einer Momentaufnahme im Schwebezustand abhanden gekommen Weiterlesen
„Willkommen in der Hölle“
Am 21. Oktober 1999 geht ein halbes Dutzend russischer Boden-Boden-Raketen auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny nieder. Die Sprengköpfe treffen zivile Einrichtungen – unter anderem eine Moschee, ein Krankenhaus sowie den Zentralmarkt der Stadt. Mehr als einhundert Zivilisten werden getötet. Rückblickend erscheinen die Ereignisse rund um diesen 21. Oktober wie eine Blaupause für das Weltgeschehen der folgenden sechzehn Jahre: Sie deuten das Erstarken des internationalen, islamistischen Terrorismus an, zeigen die Hilflosigkeit der Staaten, dieser neuen Bedrohung zu begegnen, sowie das Verlassen rechtsstaatlicher Grundsätze als Reaktion auf diese Hilflosigkeit. Weiterlesen
Die westeuropäische Linke und Russland
Die Nachsicht der westeuropäischen Linken mit Russland hat eine Geschichte, die bis zur Oktoberrevolution von 1917 zurückreicht. Auf diesem Ereignis bauten Sozialisten der 20er und 30er Jahre ihr Sehnsuchtsland, das in den Vorstellungen umso stärker gedieh, je mehr der Faschismus im eigenen Land um sich griff. Alles, was einen in der Heimat umgab, war fremd. Das Eigene lag in der Ferne, in der Wahlheimat, die man nur vom Hörensagen kannte. Bei manch einem wucherte die Sehnsucht zu einem religionsgleichen Glauben heran. Die Erlösung wartete im Osten, das Heilsversprechen war ein politisches und wurzelte in Russland: ex oriente lux. Weiterlesen