Wo es arbeitsteilig zugeht, ist der Experte nicht weit. Gegenwärtig krabbelt er aus allen Winkeln, die Universität spuckt ihn zu Zehntausenden aus (einer ihrer Tribute an die Wirtschaft), Zeitungen und Fernsehanstalten scheint er zum Fetisch geworden zu sein. Mit dem Expertentum drängen die Debatten vor allem auf Entscheidungen, nicht so sehr auf Erkenntnis. Nicht ein argumentativer Austausch, der auf ein Gegenüber im Gespräch angewiesen ist und sich auf größere Zusammenhänge einlässt, der aufs Zuhören setzt und auch mit einem offenen Ende leben kann, sondern das feste Resultat beherrscht den Zeitgeist – derweil der vermeintliche Gesprächspartner möglichst geschlagen im Staub der Debatte liegen soll. (Man beachte die Sprache: Wer hierzulande Kanzler werden will, wird zum Fernsehduell geladen – als sei High Noon in der Hauptstadt und die Pistolen der Kontrahenten bereits geladen.) Wichtiges bleibt hierbei auf der Strecke – eine Art zu sprechen, vor allem auch eine Art miteinander zu sprechen, die auf den ganzen Menschen, nicht nur auf den Fachmann in ihm, und zugleich auf den Blick auf das Ganze, nicht nur auf das kleine Reich des jeweiligen Fachgebietes, angewiesen ist.
Der Experte und der Intellektuelle
Jedes Ereignis hat mittlerweile seinen Experten: Ein Anschlag von Extremisten ruft den Terrorexperten auf den Plan, der abgestürzte Airbus den Flugzeugexperten, Starkregen, Hochwasser und Hurrikans die Wetter- und Klimaexperten. Wann immer ein neues Gesetz auf den Weg gebracht wird oder ein unvorhergesehenes Ereignis das Tagesgeschehen dominiert, die Medien werden einen Experten auftreiben. Er erscheint hier fast wie eine Art Magier mit Geheimkräften, dessen Auftreten alle offenen Fragen ihrer Auflösung zutreiben kann. Seine Rolle ist deshalb nahezu immer gleich, sie kann in den politischen Talkshows im Fernsehen paradigmatisch besichtigt werden: Nachdem die diskutierenden Volksvertreter im Namen der Parteiräson, des persönlichen Fortkommens oder der Provokation des politischen Gegners den Fakten lange genug Gewalt angetan haben, erhebt sich irgendwann MaischbergerPlasbergIllnerWill und bittet den Experten zum Tête-à-Tête. Wie bei einem Schiedsrichter am Spielfeldrand ist es nun an ihm, für Ordnung zu sorgen, Tatsachen aufzuzählen, Studien und Umfragen zu nennen. All das kann er, die Aufgabe ist wichtig, daran ist zunächst nichts Verwerfliches. Doch würde man sich oftmals wünschen, dass es nicht allein beim Nennen und Sortieren der Fakten bliebe. Einige Jahre noch, vielleicht auch einige Jahrzehnte, und irgendein Sprechautomat wird in der Lage sein, diese Aufgabe zu übernehmen.
Einzelwissenschaftlich eingemauert befindet sich der derart auftretende Experte auf der Schrumpfstufe der öffentlichen Einmischung. Er lässt sich zum Erbsenzähler degradieren, zum Zuträger einer öffentlichen Auseinandersetzung, die mit ‚mittelmäßig‘ noch gnädig attribuiert ist. Er trägt die scheinbar saubere Trennung von unantastbaren Fakten auf der einen Seite und ihrer politischen Instrumentalisierung auf der anderen Seite mit – eine Trennung, die von den Wissenschaften selber längst kassiert wurde (vgl. hierzu: Möllers, Christoph, Es ist wieder da!, in: Die ZEIT 49, 2017, S. 79). Er reiht Studie an Studie und traut sich kaum einmal eine Wertung zu, weil er überzeugt ist, dies stünde der Reinheit der Wissenschaft entgegen. Es sind also nicht nur die Scheuklappen des eigenen Faches, die den Experten limitieren, sondern auch eine bestimmte Art, Wissenschaft zu betreiben. Denn übersehen wird bei all der vorgeblich objektiven Faktensammelei, dass auch der – letztlich vergebliche – Versuch, sich von allen weltanschaulichen Fragen frei zu halten, selber eine Weltanschauung ist. Für Sozialwissenschaftler etwa, wie es Ökonomen und Soziologen sind, lässt sich das Deskriptive zu keinem Zeitpunkt vom Normativen trennen; es gibt für diese Wissenschaftler keinen externen Beobachterstandpunkt außerhalb ihres Untersuchungsgegenstandes; sie sind immer Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, werden von diesen in ihrer Forschung beeinflusst und verändern diese mit ihrer Forschung unaufhörlich. Dies zeigt nicht die Vergeblichkeit oder Nichtigkeit derartiger Wissenschaft an, sondern vielmehr ihre Kompliziertheit: Der eigene Standpunkt und die Werte, auf denen er fußt, müssen mitreflektiert werden. Zugleich bieten sie so etwas wie eine im Fach selber angelegte Brücke zu anderen Themen und Disziplinen. Den Blick zu weiten, sollte von hier eigentlich nicht mehr allzu schwer sein.
Um sich gegriffen hat die Haltung, von einer Reinheit der Wissenschaften auszugehen, vor allem nach dem Epochenjahr ’89, dem viel beschworenen, jedoch nie eingetretenen „Ende der Geschichte“. Als Gewinner im ‚Kampf der Systeme‘ hat sich der Kapitalismus eine Wissenschaft nach eigenem Antlitz geschaffen: Verkürzt und etwas überspitzt ausgedrückt, gab fortan (um in den Beispielen Soziologie und Ökonomie zu bleiben) die Statistik Auskunft über die Gesellschaft und die mathematische Formel über die Wirtschaft. In dieser vermeintlich objektiven Reinheit gedeiht das Expertentum natürlich prächtig, denn wo an den Tatsachen nicht gerüttelt werden kann, wird jede Einmischung, die über sie hinauswill, obsolet. Zugleich wird die Möglichkeit, einen Überblick zu erlangen und Zusammenhänge herzustellen, in einer ausgefransten Wissenschaftslandschaft ungemein erschwert. Wolfgang Fritz Haug hat Recht, wenn er behauptet, dass das Wissen, das diese Haltung hervorgebracht hat, spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 seine Bankrotterklärung eingereicht hat. Oder in den Worten des tschechischen Ökonomen Tomáš Sedláček: „Mir scheint, dass wir den Juristen und Mathematikern eine zu große Rolle zugestanden haben, auf Kosten der Dichter und Philosophen [Anm.: von letzteren später mehr]. Wir haben zu viel Weisheit gegen Exaktheit getauscht, zu viel Menschlichkeit gegen Mathematisierung“ (Sedláček, Tomáš, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 401). Anstatt also vorzugeben, Schiedsrichter am Spielfeldrand der Debatte sein zu können, sollte der Experte das Fachliche lediglich als Ausgangspunkt begreifen: Wer die Kapazitäten hat, sollte sich – von seiner Expertise ausgehend – in offene Gewässer wagen, argumentativ große Bögen spannen, sich einlassen auf das, was das Gegenüber zu sagen hat, es mitnehmen und weiterspinnen, sich zu allgemein-menschlichen Fragen äußern, auch das Risiko eingehen, in unsicheren Gefilden scheitern zu können, sodass der vermeintlich große Gedanke ins Stocken gerät, bevor er richtig Fahrt aufnehmen konnte. Nur so würde aus dem Experten (wieder) ein Intellektueller werden, der gegenwärtig kaum eine Lobby hat, nur in Nischen existiert, weil er wunde Punkte treffen kann – in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, ja gerade auch in letztgenannter, der doch von den beiden erstgenannten so oft ins Handwerk gepfuscht wird.
Der Politiker und der Intellektuelle
Öffnete sich die Perspektive, was nichts mit Beliebigkeit, auch nichts mit fehlender Präzision zu tun haben muss, käme im Politischen die gesamte Heuchelei ins Sichtfeld, die sich etwa Rettung der Eurozone, Verhinderung des Steuerbetrugs, Bekämpfung der Fluchtursachen, Sicherung des Friedens, auch soziale Gerechtigkeit nennt. Allein aus diesem Grund bereits müssen Wirtschaftsvertreter und Politiker den Intellektuellen marginalisieren – wer will schon den eigenen Dreck eingeholt sehen, der einem in der Folge die Beine umspülte? Auch der Weg, selber zu einem Intellektuellen zu werden, bleibt ihnen versperrt (auch wenn viele von ihnen sicherlich das mitbringen, was oben als die notwendigen „Kapazitäten“ bezeichnet wurde). Dies nicht nur, weil man die Langzeitfolgen des eigenen Handelns, etwa ihre Konsequenzen in fernen Erdteilen, nicht selber zutage fördern möchte. Es hat auch mit den Regeln des Politikbetriebs zu tun: Während der Wähler dem Politiker ein intellektuelles Auftreten genannten Sinns wohl noch durchgehen lassen (es vielleicht sogar begrüßen) würde, ließe der politische Gegner diese Gnade bestimmt nicht walten. Was oben Offenheit der Debatte genannt wurde, würde als Vagheit und Unentschlossenheit verunglimpft werden; Gedanken, die über die Tatsachen hinausweisen, als unnötiges Beiwerk, als müßige Spielerei; ein nicht konfrontatives Eingehen über Parteigrenzen hinweg schließlich als merkwürdige Fraternisierung – solche Beziehungen sind fürs Hinterzimmer bestimmt, nicht für die Öffentlichkeit von Parlament oder Fernsehtalkshow. Bis auf den Grund politischer Probleme – damit auch auf den unterschiedlicher Positionen – zu gelangen, ist folglich kein Wesensmerkmal der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart, zumindest nicht in Deutschland.
Ein Beispiel, aus dem Jahr 2013 zwar, aber kein bisschen angegraut: Es geht im Bundestag um den Einsatz von Kampfdrohnen, ein Thema, das – wollte man es angemessen diskutieren – sehr viel von dem einfordert, was oben dem Intellektuellen zugeschrieben wurde. Die Mehrzahl der Parlamentarier, vor allem jene aus den Regierungsparteien, ist dazu allerdings nicht willens (manche wohl auch nicht in der Lage); sie möchten den Blickwinkel nicht weit stellen, etwa auf ethische Abwägungen, auf allgemein-menschliche Fragen oder auch nur auf die Bewohner jener Länder, die in der Zukunft von Drohnenangriffen heimgesucht werden würden – den potentiellen Opfern der eigenen Beschlüsse also. Da springen plötzlich vier Aktivisten auf der Besuchertribüne auf, rufen Unverständliches den Abgeordneten zu; und wie zur Erinnerung, was die Debatte gerade alles ausspart, recken sie ihre rotgefärbten Handflächen gen Saal. Bevor der Sicherheitsdienst sie abführt, gibt der CSU-Abgeordnete am Rednerpult ihnen noch mit auf den Weg, ihr Protest sei undemokratisch. Katrin Göring-Eckhardt, seinerzeit Vizepräsidentin des Bundestages, beschränkt sich auf die Bitte, die Protestierenden mögen doch bitte die Besuchertribüne verlassen. Der Publizist Roger Willemsen, damals für ein Buchprojekt Dauergast im Parlament, schrieb zu dem Vorfall: „Eine solche Aktion wäre den Grünen mal sympathisch gewesen, heute aber werden diese Friedensaktivisten von einer Grünen-Präsidentin des Saals verwiesen und von einem CSU-Mann belehrt, was „demokratisch“ ist. Menschenrechte sind einfach schwerer zu verteidigen als die Hausordnung des Bundestags“ (Willemsen, Roger, Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 221). An anderer Stelle notiert Willemsen über die Verweigerung gegenüber dem Grundsätzlichen fast schon resignierend: „Es gibt eben kein Jenseits zu jenen Anträgen und Gesetzesentwürfen, die sich das Parlament selbst vorlegt“ (ebd., S. 152). Es ist eine gewaltige Selbstbeschneidung, die hier im Namen des politischen Tagesgeschäfts betrieben wird. Da nimmt es dann auch nicht Wunder, dass ein Abgeordneter der Union sich im Laufe der Debatte zu den Drohneneinsätzen nicht zu schade dafür ist, das blinde Expertentum für die eigene Position zu instrumentalisieren: Bei einem Thema, das sich buchstäblich um Leben und Tod dreht, unterfüttert er seine Argumentation tatsächlich mit einer Umfrage, die mehr als siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber Kampfdrohnen bescheinigt. Wie entsetzlich dumm Menschen an Statistiken werden können, ist selten eindrücklicher demonstriert worden.
Das Intellektuelle kommt höchstens als Einbruch ins Parlament, etwa als auswärtiger Besuch zur Feierstunde. So im Mai 2014, als Navid Kermani eine bemerkenswerte Rede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes hielt (Man möchte diesen Mann so gerne im Schloss Bellevue sehen, sein Name tauchte ja immer wieder auf; bezeichnend, dass zuletzt, hervorgegangen aus dem Ämtergeschacher der Großkoalitionäre, eine Beamtenseele wie Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident wurde). Kermani spannte in seinem Vortrag große historische Bögen und kam auch auf die oben skizzierte Selbstbeschneidung der Abgeordneten zu sprechen. Er führte aus, dass in der Zeit, in der die Verfassung entworfen wurde, die in ihr festgeschriebenen Freiheiten eher Bekenntnisse gewesen seien und nicht die Realität in Deutschland beschrieben hätten. Viele schwelgten seinerzeit noch in den von der Erinnerung schöngefärbten Bildern der Vergangenheit. In einer von Kermani erwähnten Umfrage aus dem Jahr 1951, in der die Menschen nach der für sie besten Zeit gefragt wurden, entschieden sich nur zwei Prozent der Befragten für die Bundesrepublik, 42 Prozent stimmten für die Zeit des Nationalsozialismus. Kermani zieht aus den Zahlen folgenden Schluss: „Wie froh müssen wir sein, dass am Anfang der Bundespolitik Politiker standen, die ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen ausrichteten“ (Rede von Navid Kermani zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“, auf: bundestag.de, abgerufen 15.12.17). Im Parlament brandet Applaus auf, auch von der Bundeskanzlerin (die ansonsten während der Rede dreinsieht, als hätte sie jemand mit Übelriechendem übergossen). Nachdem dieser wieder abebbt, legt Kermani eine kurze, rhetorische Frage nach, die als leise Anklage verstanden werden kann: „Und heute?“ (ebd.) Es ist auch im Dezember 2017, knapp dreieinhalb Jahre nach der Rede, immer noch die genau richtige Frage: Kommt die Politik gegenwärtig, da so viele Gesetze nur mehr partiell die Wirklichkeit abbilden, über eine Perspektive hinaus, die in ihrer Kurzsichtigkeit nichts als Zwänge, Alternativlosigkeit und die jüngsten Umfrageergebnisse sehen lässt? Und noch wichtiger vielleicht: Ist sie überhaupt willens, über jene Perspektive hinauszugelangen? In vielen Fällen tendieren die Antworten leider zu einem doppelten ‚Nein‘.
Gewisse Arten der Auseinandersetzung scheinen der Politik also verbaut, wobei sie ein Gutteil der Hindernisse selber errichtet hat. Das wird auch abseits des Parlaments deutlich, wenn sich ein Volksvertreter einmal in eine jener Nischen verirrt, in denen intellektuelle Debatten zuweilen noch stattfinden (bevorzugt im Nachtprogramm oder gedruckt in kleiner Auflage). Als etwa Martin Schulz im Jahr 2016 in der Sendung „Precht“ zu Gast war, konnte er den Politiker nur zu Hälfte vor der Tür lassen. Ein Gespräch kam zwar zustande, jedoch bemüht und in engen Grenzen. Immerhin konnte Schulz bei dieser Gelegenheit demonstrieren, dass Bildung zuvorderst eine des Menschen ist und nicht – wie es in manch kleingeistigem Feuilleton herumgeisterte – mit irgendwelchen Zeugnissen zusammenhängt. Hier gesellt sich zum Fetisch aufs Expertentum der des Deutschen aufs gedruckte Papier mit Amtsstempel. Aber das ist ein anderes Thema; wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Schulz nicht so recht aus seiner Rolle schlüpfen konnte. Immerhin jedoch hat er es versucht – wie denkunmöglich ist es hingegen, sich die Kanzlerin in einem solchen Format vorzustellen. Es wäre Offenbarungseid und Qual zugleich, müsste ihrem Missbrauch der Sprache, ihrer uninspirierten Leier aus vorgestanzten Phrasen und sinnlos-mäandernder Hypotaxe eine Stunde gelauscht werden. Derweil Precht, nach dem x-ten Anlauf, mit ihr ins Gespräch zu kommen, versuchte, sich in seinem Wasserglas zu ertränken. Es wäre ganz sicher ein Schauspiel – ein Trauerspiel, um präziser zu sein.
Nein, Merkel ist an echtem Austausch nicht interessiert; auch will sie den Winkel nicht weitstellen. Auf dem politischen Parkett ist sie es, die dem Expertentum wohl am nächsten kommt. Mit fast schon unheimlicher Akribie soll sie sich ins Aktenstudium stürzen, jedes Detail kennen, wenn es in Verhandlungen geht. Auch hier gilt, was für Experten anderer Berufe gilt: Es ist daran zunächst bestimmt nichts Verwerfliches, im Gegenteil. In einer Zeit, da Präsidenten anderer Staaten mitunter bis zu ein Drittel des Tages mit Fernsehgucken vertun, kann eine fleißige Kanzlerin so schlecht nicht sein. Doch warum nur bleibt sie immerzu beim Inhalt der Akten stehen? Warum denkt sie nicht weiter, macht Vorschläge, tritt offensiv mit Ideen vor Parlament und Bevölkerung? Zumal ihr Beruf nicht gleicher Art ist wie alle anderen: Er ist nicht erwählt, sondern sie ist gewählt, und verfassungsgemäß sieht ihr Aufgabenspektrum unter anderem vor, den Dingen eine Richtung zu geben, eine Perspektive zu entwickeln, also zumindest in geringem Grade intellektuelle Züge anzunehmen.
Um deutlich zu machen, was der Kanzlerin fehlt, auch an dieser Stelle ein Beispiel: Die Massenüberwachung durch amerikanische und europäische Geheimdienste, der millionenfache Bruch der Verfassung, hätte einer entschiedenen politischen Reaktion bedurft. Das bloße Sondieren der Lage, gewissermaßen die Diagnose, hätte nur der erste Schritt sein dürfen. Es hätte von oberster Stelle der Vertrauensbruch zwischen Staat und Bürgern thematisiert werden müssen; die Tatsache, dass sich die Geheimdienste in mancher Hinsicht von jeder politischen Kontrolle gelöst hatten, hätte deutlich angeprangert werden müssen (stattdessen wurde sie nachträglich von der Politik gedeckt); ethische Erwägungen, was Bespitzelung mit einer Gesellschaft anrichten kann, hätten angestellt werden müssen; für Merkel hätte sich in diesem Fall sogar der biographische Schwenk in die DDR angeboten. Doch von all dem – nichts, zumindest nicht aus dem Kanzleramt. Merkel schien bestürzter über die Tölpelhaftigkeit der Amerikaner, sich erwischen zu lassen, als über die Überwachung selber. So hat sich denn auch wenig geändert bei den Geheimdiensten; der eingerichtete Untersuchungsausschuss verrichtete seine Arbeit weitgehend abseits der breiten Öffentlichkeit. Er hatte es hierbei mit Schlapphüten zu tun, die den Parlamentariern – mal mehr, mal weniger direkt – ins Gesicht sagten, dass sie in ihrer gewonnenen ‚Selbstständigkeit‘ nicht gestört und auch nicht beschnitten werden wollen. Politiker hatten dann und wann ihren Auftritt, zum Abschluss schließlich war die Kanzlerin da. Ihre (Nicht)Auskünfte lassen sich leicht zusammenfassen: Mein Name ist Merkel, ich wusste von nichts – und ich will auch von nichts wissen, möchte man hinzufügen. Wohlgemerkt in einem Feld, das zu ihrem Aufgabengebiet gehört: Die Aufsicht über die Geheimdienste obliegt dem Kanzleramt. Strenggenommen also fällt sie in diesem Zusammenhang noch hinter das ansonsten von ihr gepflegte Expertentum zurück, scheint sie doch nicht einmal an der Diagnose interessiert zu sein. Diese Haltung zu brechen, wäre Aufgabe der Wähler, doch diese fordern ein Umlenken im Auftreten der Regierungschefin nicht ein. Nach zwölf Jahren und vier Wahlen kann man getrost aufhören, an Zufälle zu glauben: Vielleicht haben sich die Deutschen all die Jahre schlicht eine Kanzlerin nach ihrem Ebenbild gewählt, vielleicht hat es ein Land der Denker nie gegeben (das waren die spinnerten Ausreißer, die einem Jahrzehnte nach ihrem Ableben zum Schmuck gereichen), sondern nur eines der Pedanten mit Fußnotenfetisch (der dritte Fetisch im Bunde, verwandt mir den beiden Erstgenannten).
Der Philosoph als Intellektueller (und umgekehrt)
Um zum Gegenentwurf überzuleiten, noch einmal zurück zur Sendung „Precht“: Merkel ist dem Philosophen zum Glück erspart geblieben, den halben Schulz hat er vernünftig über die Bühne gebracht. Doch in welch‘ anderen Sphären bewegte sich die Sendung, als etwa der Sozialwissenschaftler Heinz Bude oder der Jurist und Filmemacher Alexander Kluge zu Gast waren!? Die Mühelosigkeit, mit der Ersterer die gegenwärtige Gesellschaft sezierte, mit der Letzterer die Geschichte in Zeiten der Ruhe und solche der Reibung einteilte – dies bei beiden, ohne in Faselei oder irgendwelche Gemeinplätze zu verfallen –, lässt eine informierte Übersicht erkennen, die aus Experten- und Politikermund nicht vernommen werden kann. Dazu tritt Mut zur Offenheit, etwa wenn Bude nach dem zukünftigen Träger emanzipatorischer Gedanken und Handlungen innerhalb der Gesellschaft fragt. Hier ist mit nur wenigen Sätzen der unbestellte Acker der politischen Linken abgesteckt, wo es doch ein bekennendes Proletariat kaum mehr gibt und sich im Dienstleistungsprekariat so recht keine Solidarität regen will. Auch das klare Urteil, auf den Füßen der Ethik gefällt, fehlt nicht, wenn Kluge beispielsweise einfordert, die Flüchtlingskrise müsse auf das Fundament einer breiteren Erzählung gestellt werden – einer Erzählung, wie sie etwa die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit gepflegt hätten. Ohne die jüdische Emigration aus Osteuropa wäre das wissenschaftliche Milieu des Landes, vor allem jenes im ‚Heartland‘ des Kontinents, undenkbar. Ein anderes Beispiel, das Kluge nennt, sind die Salzburger Hugenotten, die als Religionsflüchtlinge aus Österreich das frühneuzeitliche Preußen um Jahrzehnte voranbrachten. Kurz, in den Worten Kluges (und die Fähigkeit zur präzisen Kürze ist wohl ein weiteres Merkmal des Intellektuellen): In der Erde, die unter den Sohlen der Flüchtenden haftet, steckt häufig der Samen für Neues.
Kluge gebraucht hier (näherungsweise) das, was Karl Jaspers „umgreifendes Bewusstsein“ genannt hat – für Jaspers nicht weniger als die Methode der philosophischen Wissensaneignung. Kluge bleibt nicht im Spezialistentum verhaftet, sondern wagt den Blick auf das Ganze – dies nicht, um als eine Art Protokollant des Weltwissens zur Viel- oder Alleswisserei zu gelangen. Vielmehr sucht er die Verknüpfung zum Grundsätzlichen: „Die philosophische Bewährung ist es, gerade nicht in das Alleswissen zu geraten, sich nicht fesseln zu lassen von all dem Interessanten, das am Wege liegt, vielmehr immer alsbald ein Ende zu setzen, wenn das Grundsätzliche, das, was alles mit dem umgreifenden allgemeinen Bewußtsein verbindet, klar geworden zu sein scheint“ (Jaspers, Karl, Philosophische Autobiographie, in: ders., Mitverantwortlich. Ein philosophisches Lesebuch, Gütersloh o. J., S. 96). Das Grundsätzliche ist in genanntem Beispiel Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft; es schmiedet einen Bogen, der allerdings zu keiner direkten Handlungsanweisung führt; wirklich lernen kann aus der Geschichte nur, wer auch die Unterschiede nicht außer Acht lässt. Dennoch ist mit dem Grundsätzlichen, das in Kluges Fall die Einsicht ist, dass der Fremde nicht nur Zumutung und Belastung sein kann, in Zeiten, da Experten unentwegt die Budgets durchrechnen und Politiker über längst obsolet gewordene Obergrenzen streiten, bereits viel geleistet. Im Anschluss an Jaspers ließe sich folglich, mit wirklich nur ein wenig Ironie, sagen: Wollen die Menschen schon nicht zu Intellektuellen werden, so sollten sie es zumindest einmal mit dem Philosophen-Dasein versuchen.
Bemerkenswert ist, dass dies aus ganz anderer Denkrichtung und Überzeugung eine Bestätigung erfährt. Bei Ernst Bloch ist es das essayistische Denken, das den Philosophen auszeichnet. Auch für dieses gilt, nicht stehenzubleiben bei den einzelwissenschaftlichen Ergebnissen, dieser „bloß[en] Stufenfolge von toten Gegenwarten“ (Bloch, Ernst, Geist der Utopie (Faksimile der Ausgabe von 1918), Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt a. M. 1985, S. 334). Anstatt sich also derart als Totengräber zu betätigen, muss über die Fakten das „Tendieren nach dem Zielgemäßen, Sinngemäßen überhaupt“ (ebd., S. 336) erfasst werden. „Methode haben heißt mit dem Weg der Sache gehen, und der Weg der Sache verlangt universitas, genetisch gegliederte Totalität des Blicks“ (Bloch, Ernst, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt a. M. 1985, S. 61). Oder anders, nur scheinbar paradox, formuliert: Der Philosoph muss bei der Sache bleiben, indem er nicht bei ihr bleibt. Dass nun Jaspers „umgreifendes Bewusstsein“ ansonsten mit Blochs „Tendieren“ wenig bis gar nichts gemein hat, verabschiedet sich ersteres doch in die luftigen Sphären eines Idealismus, der sich jeder zusammenhängenden Erzählung, jedem Erfassen der Welt als einem Ganzen verschließt, während Blochs Tendenzen, materialistisch ‚angenagelt‘, auf ein Transcendere ohne (idealistische) Transzendenz eingeschworen sind – dieser Unterschied spielt im hier diskutierten Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle. Es ist der Grundzug aufs Ganze, auf die universitas, der zählt – und der ist mindestens ähnlich.
Weitgehend ähnlich ist auch der Blick auf die Konsequenzen für eine Gesellschaft, wenn diese Art des Denkens (ganz egal, ob sie nun intellektuell, philosophisch oder essayistisch genannt wird) im Schwinden begriffen ist. Es ist kein sonderlich schönes Bild, das sich zeigt: Auf ihm ist Orientierungslosigkeit, Verloren-Sein, die Beschneidung menschlicher Potentiale, ein Vergessen der großen Philosophen der Vergangenheit und die Schwundstufe eines Denkens zu sehen. Jaspers gibt noch eine wichtige Gefahr obendrein: „Wären alle nur Spezialisten, so wäre die Menschheit zur Beute überantwortet dem, der die ganze Masse durch Gewalt unter seinen Willen zwingt. Das kann er nur, wenn der Spezialist mit Herz und Kopf nicht Bescheid weiß in dem, worauf alles ankommt und woran auch sein Spezialistentum am Ende zu seiner Entfaltung gebunden ist“ (Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 97). Alles idealistische Entschweben rückt hier in den Hintergrund; dieser Satz landet im Politischen – einem Politischen, das überraschenderweise zumindest schwach rot eingefärbt ist: Es hätte Jaspers vielleicht nicht geschmeckt, aber in der Gefahr, die er benennt, scheinen (wenn auch nur ganz leicht) die marxistischen Begriffe „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ durch. Keinen Überblick (mehr) haben, sich in der eigenen kleinteiligen Aufgabe, der Expertise, verlieren, worüber einem schließlich die Verbindung zum Menschsein abhandenkommt („mit Herz und Kopf nicht Bescheid“ wissen) – all dies beschreibt ein Dasein, das von der kapitalistischen Ordnung begründet wird. Kein Wunder also, dass es für Jaspers‘ Diagnose die aktuelle Bestätigung von links gibt, wenn Wolfgang Fritz Haug – in expliziter Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Rolle des Intellektuellen – von einer Entscheidung spricht, die fällig sei: In was für einer Gesellschaft möchten wir leben? In einer, in der jeder pflichtbewusst seine Aufgabe übernimmt, oder in einer, in der der Überblick, das Denken in größeren Zusammenhängen geschätzt wird und die hierüber gewonnenen Ideen echte Teilhabe überhaupt erst möglich machen? (vgl. Haug, Wolfgang Fritz, Zur Frage nach der Gestalt des engagierten Intellektuellen, in: Das Argument 280, 2009). Diese Entscheidung ist fällig (für manch einen wohl auch schon gefällt) und in ihrer Wichtigkeit kaum zu überschätzen. Denn diejenigen, die – mit Jaspers gesprochen – die Masse mit Gewalt unter ihren Willen zwingen wollen, machen nicht nur Beute an verloren gegangenen Arbeitern und Kleinbürgern, sondern auch an verloren gegangenen Experten.