Manche Dinge stehen am falschen Ort; Gewohnheit oder Täuschung können sie dort platzieren – das eine ist menschlicher Irrtum beruhend auf eingeschliffenen Wahrnehmungsschemata, das andere Herrschaftsinstrument. Diese Differenzierung lässt sich anhand Swetlana Alexijewitschs Tschernobyl-Buch verdeutlichen – was zuvorderst ein literarischer Text ist, steht im Buchgeschäft bei den Sachbüchern, was eine Reaktorkatastrophe ist, wird von vielen Betroffenen unter die Kriege sortiert.
Don’t judge a book by its cover, sagt der Engländer und meint damit ein Contra gegen vorschnelles Schubladendenken, eine Vorsicht gegenüber ersten Eindrücken, die allzu leicht fehlgehen können. Was als redensartliche Mahnung für ein nicht-oberflächliches Miteinander daherkommt, führt zugleich Impfstoff gegen Ideologisches mit sich: Das Cover, wörtlich genommen als das Zudeckende, nicht zum Fundament der eigenen Urteile zu machen, stattdessen es zu heben, geht als Imperativ gegen alles falsche Bewusstsein an jene, die echte Veränderung wünschen. In einer Hinsicht allerdings, so viel sei einschränkend gesagt, hängt die Übertragung schief: Erste Eindrücke zwischen Menschen können die unglücklichen Umstände der Begegnung reflektieren oder auf Missverständnissen beruhen. Die Ideologie hingegen, sofern sie Falsches zur Vorstellung bringt, will täuschen, eine Korrektur ist nicht vorgesehen; für immer soll, um in der Redensart zu bleiben, der Umschlag Bewertungsgrundlage für das gesamte Buch sein.
Die Identifizierung von Ideologischem war an dieser Stelle wiederholt Thema – sei es in der Auseinandersetzung mit sprachlichen Falschetikettierungen, mit mentalen Konstrukten, die in der Wirtschaft gepflegt werden, oder mit einem Recht, das Parteinahme für Herrschaftsinteressen ergreift. Hier nun soll zunächst das Bild aus oben genannter Redensart beim Wort genommen werden: Swetlana Alexijewitschs Tschernobyl-Buch enthält keine explizite Gattungszuordnung. In den Buchgeschäften ist es zu den Sachbüchern sortiert. Das Cover (der Taschenbuchausgabe, 4. Aufl., März 2016) leistet seinen Beitrag zu dieser Einordnung: Es zeigt im Hintergrund, hindurchschimmernd aus Nebel, eine Industrieanlage. Es ist naheliegend, diese für den Reaktor zu halten. Im Vordergrund sind, deutlicher konturiert, kahle Bäume auf einer Wiese zu sehen. Das Gras ist grau, wie auch der Himmel am Horizont. Farbe zeigen einzig die Bäume, sie sind in ein tiefes, dunkles Rot getaucht. In seiner fast schon apokalyptischen Aufmachung könnte die Botschaft des Covers kaum eindeutiger sein: Hier stimmt etwas nicht; Schreckliches ist passiert. Genau diese Erkenntnis allerdings geht fast allen Betroffenen, die in Alexijewitschs Buch zu Wort kommen, ab. Es mag marketingtechnisch ratsam sein, ein Buch über Tschernobyl mit rot leuchtenden Bäumen zu bewerben, auch hat die Verfärbung wohl eine Entsprechung in der Realität (in unmittelbarer Umgebung des Reaktors sollen sich Kiefern und Fichten wenige Tage nach der Havarie zunächst rot, dann schließlich rostfarben gefärbt haben), doch am Inhalt des Textes geht diese Gestaltung nicht nur ein bisschen vorbei.
Verantwortlich für das Cover zeichnet sich eine Münchener Werbeagentur, die den – in diesem Zusammenhang recht ironisch anmutenden – Namen „semper smile“ trägt. Das Umschlagbild hat die Agentur vom Bilderdienst „shutterstock“ bezogen, wo es von einem ukrainischen Fotografen mit dem Nutzernamen „Yanas“ veröffentlicht wurde. Es trägt dort den Titel „pessimistic landscape“, ist in braun-grauen Farbtönen gehalten – ein rotes Leuchten ist den Bäumen noch nicht mitgegeben. Und auch wenn das Bild online unter die Kategorie „Tschernobyl“ sortiert ist, sonderlich viel Ähnlichkeit hat der abgebildete Schlot der Industrieanlage mit dem des Unglücksreaktors nicht. Es könnte dies als vorsichtige Abgrenzung von der Zuordnung ‚Sachbuch‘ verstanden werden. Doch gerade dem Literarischen von Alexijewitschs Text kommt der Leser über diese Verfremdung nicht nahe, steht doch nicht die Wirklichkeit des Reaktors infrage, sondern die einer vollkommen neuen, nie dagewesenen Lebenssituation nach der Katastrophe. Für dieses Novum, das sich eben für die meisten Betroffenen nicht in leuchtenden Bäumen bemerkbar machte, stattdessen vollkommen im Verborgenen (im wahrsten Sinne des Wortes) Gefahr ausstrahlte, gilt es, eine Sprache zu finden. Zugegeben, die Covergestaltung wird vor diesem Hintergrund zur Herkules-Aufgabe: Wie soll der Ausnahmezustand in der augenscheinlichen Normalität dargestellt werden? Wie soll die Lebensgefahr für arglos in kontaminierten Gewässern badende und fischende Menschen abgebildet werden? Vielleicht stößt das Bildende hier schlicht an Grenzen, über die es nur sprachlich ein Hinauskommen gibt? Vielleicht wäre jedes Foto auf dem Umschlag dazu verdammt gewesen, die Katastrophe entweder gar nicht oder als scheinbar eindeutiges Ereignis einzufangen? (Ein Indiz hierfür ist die Gestaltung früherer Taschenbuchausgaben; sie sind schlicht einfarbig gehalten.)
Um die Schwierigkeit der Aufgabe, eine Sprache für die Katastrophe und ihre Folgen zu finden, geht es – mal mehr, mal weniger explizit – in den Monologen der Betroffenen. Auf den Punkt bringt dieses Problem die Naturschutz-Inspektorin Soja Danilowna Bruk: „Tschernobyl ist vor dem Hintergrund eines unvorbereiteten Bewußtseins explodiert“ (Alexijewitsch, Swetlana, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, 4. Aufl., München/Berlin 2016, S. 205). Wie lässt sich beschreiben, dass Angehörige mit akuter Strahlenkrankheit sich förmlich aufzulösen scheinen? Wie über Kinder sprechen, die sich an den Schrecken anpassen und beginnen, ‚Sterben‘ zu spielen? Wie die Situation von Umsiedlern erfassen, die andernorts wie Aussätzige behandelt werden, ohne Aussicht das Stigma ‚Tschernobyl‘ je wieder abschütteln zu können?
Die Grenzen, an die die Berichtenden in ihren Erzählungen stoßen, werden jedoch nicht nur vom Neuen der Umstände gesetzt, sondern auch vom ideologischen Überbau der Sowjetunion. Er ist es, der wesentlich für jenes unvorbereitete Bewusstsein verantwortlich ist. Wegen ihm müssen sich viele der Betroffenen zunächst damit behelfen, das gänzlich Neue ins Korsett des Bekannten zu zwängen – insbesondere in das Bild vom Krieg. Es gelte zu siegen, den Heldenmut des Sowjetmenschen zu demonstrieren, der Heimat zu dienen (vgl. u.a. ebd., S. 59, 79, 125, 146, 173, 245). Der Staat nährt diese Vorstellungen mit seiner Reaktion auf die Katastrophe; denn was tut die Partei, als das Unglück seinen Lauf nimmt? Sie schickt Soldaten, voll ausgerüstet. Dass etwas falsch ist an diesem Bild, beginnt einigen zu dämmern: Worauf sollen sie denn schießen, die Soldaten mit ihren Gewehren? Auf Atome und Isotope? Wen gilt es hier zu besiegen? Und wie überhaupt soll ein ‚Krieg‘ geführt werden, der kein Jahr, auch kein Jahrzehnt, ja nicht einmal ein Jahrhundert dauern wird (das hat es ja alles schon gegeben, bewegt sich also im Rahmen der eigenen Vorstellungskraft), sondern Millionen Jahre, im Falle der ‚Gegnerschaft‘ bestimmter Isotope sogar Milliarden Jahre Einsatz fordern würde. Vor dieser Aussicht erscheint jeder bisherige Krieg als klare, leicht verständliche Angelegenheit. Für Tschernobyl hingegen gibt es keine Vorstellung, folglich auch keine Sprache; und natürlich ist Alexijewitschs Buch der Versuch, diese Sprachlosigkeit nicht nur zu konstatieren (was bereits viel ist), sondern sie – zumindest ein Stück weit – zu überwinden. Und was nun ist für die Literatur eine wichtigere Aufgabe als die, Wörter für bisher nicht Erfasstes zu finden?!
Wenn beim Umkreisen dieses Neuen immer wieder auf das ideologisch Abgeschmackte zurückgegriffen wird, auf den tapferen Kämpfer etwa, der sich einst im Großen Vaterländischen Krieg bewährt hat und sich nun im Kampf gegen die Radioaktivität bewähren soll, so steht das grundsätzlich Verwerfliche am Schüren dieser Schimäre außer Zweifel. Die Wurzel des Problems ist hier ein Herrschaftsapparat, dessen Vertreter bei Besuchen in Tschernobyl auf frisch asphaltierten Straßen unterwegs sind, von denen sie nicht einen Millimeter weichen (vgl. ebd., S. 143), während sie zugleich ihren Untergebenen Trugbilder vermitteln, die diesen den sicheren Tod versüßen sollen. Doch in dem Moment, da der Reaktor explodierte, verwandelte sich dies grundsätzlich Schlechte und Verachtenswerte bestimmt nicht in ein Gutes, aber doch zumindest in ein Nützliches, das wohl weit Schlimmeres verhindert hat. Es brauchte mutmaßlich eine Bevölkerung mit ideologisch deformiertem Bewusstsein, um etwa einen Chemieingenieur wie Iwan Nikolajewitsch Schmychow an einen Ort wie Tschernobyl beordern zu können. Als für dessen Arbeitsgruppe der Einzugsbefehl kommt, dominiert folgende Haltung: „Was sein muß, muß sein! Die Heimat hat gerufen, die Heimat hat’s befohlen!“ (ebd., S. 195) Ein Chemieingenieur mag man nun denken, der müsste es doch eigentlich besser wissen! Tat er nicht, denn radioaktive Strahlung kam in seiner Ausbildung kaum vor und in Tschernobyl gab es ja ohnehin kaum welche, sodass diese Wissenslücke letztlich verschmerzbar war – soweit die von den Herrschenden geschaffene Gedankenatmosphäre. Bei anderen war es der Gehorsam gegenüber dem eigenen Pflichtgefühl (ebd., S. 224) oder der Parteidisziplin (ebd., S. 202), der sie zum strahlenden Reaktor trieb.
Wie nahe sich der ideologische Überbau und die Tatsachen (nicht die der Radioaktivität, sondern die des staatlichen Unrechts) dann doch manchmal gekommen sind, verdeutlicht die zynische Ansprache eines Kommandeurs, der rebellierende Liquidatoren aufs Dach des Reaktors zu treiben hatte: „Bei uns gehen nur Freiwillige aufs Dach, die anderen einen Schritt aus der Reihe, mit denen wird sich der Staatsanwalt befassen“ (ebd., S. 229). Die Worte fruchten, das Aufbegehren ebbt ab, alle klettern sie wieder nach oben, um nahezu ungeschützt den radioaktiven Schutt abzutragen. So war wohl der wichtigste Baustoff für den Sarkophag diese weitgehend blinde Folgsamkeit, die sich aus militärischer Disziplin, Drohkulissen und verdrehten Vorstellungen speiste. Wohl kaum ein anderes Land hätte derart viele Menschen mit großem Hurra an einen lebensgefährlichen Ort schicken können (und dabei von der Mehrzahl dieser Menschen noch ein Hurra zurückbekommen), woraus kein Stolz auf diese Art von Einzigartigkeit erwachsen sollte (ebd., S. 106), sondern die totale Ablehnung gegenüber den Herrschenden – und sei es zumindest im Rückblick. Es gilt unbedingt: Don’t judge a book by its cover! Doch ist man erst einmal hinter den Betrug gekommen, so gilt noch viel mehr und weitaus wichtiger: Judge a government by its ideologies!
Wer sich an erstgenannte Devise hält, wird in Swetlana Alexijewitschs Buch mehr Wahrheit und Wirklichkeit erfasst finden als in den meisten Sachbüchern. Eben weil sie nicht Fertiges sortiert, Fakten aneinanderreiht und die Katastrophe als Vergangenes behandelt, sondern die Betroffenen sprachlich nach dem Neuen tasten lässt. Das macht die im Untertitel des Buches angekündigte (paradox anmutende) „Chronik der Zukunft“ aus – sie schreibt die Dinge fort, nicht fest. Und die Kernbotschaft dieser Chronik ist eine, die sachhaft-nüchterner nicht sein könnte, die Einzug halten kann in den Alltags jedes Lesers, egal ob in gegenwärtigen oder zukünftigen Zeiten: Akzeptiere Erscheinendes nicht fraglos, nimm Verantwortliche beim Wort, mit dem sie allzu oft täuschen wollen, lüfte den Schleier! An diesem Punkt fängt natürlich vieles an zu schwimmen; mit Starrem ist leichter umzugehen als mit Dingen im Fluss. Weiter schlimm ist das nicht, denn näher an der Realität sind zweifellos letztere. Eingangs hieß es, manche Dinge stünden am falschen Ort. Tatsächlich stehen viele, vielleicht alle Dinge (noch) am falschen Ort, weil sie noch nirgends angekommen sind. Von diesem Problem, das zugleich Aufgabe ist, kann auch ein literarisches Sachbuch, das zugleich sachhafte Literatur ist, einen Eindruck geben.